Eine weit verbreitete These lautet: In Deutschland leben immer mehr junge Erwachsene immer länger im Haushalt ihrer Eltern. Zwar lebten 2015 etwa 60 Prozent der 18- bis 24-Jährigen noch im Elternhaus. Der Anteil der sogenannten Nesthocker ist gegenüber 2005 jedoch leicht zurückgegangen. Somit widersprechen die Zahlen der allgemeinen Wahrnehmung. Deutschlandkarten, die auf aktuellen Analysen der letzten Volkszählung von 2011 beruhen, zeigen markante räumliche Muster hinsichtlich Alter und Geschlecht.

Gründe für den Auszug
Die ökonomische Selbstständigkeit, insbesondere der Bezug und die Höhe eines eigenen Einkommens, spielt eine Schlüsselrolle beim Auszug aus dem Elternhaus (Iacovou 2010). Die Familienform der Herkunftsfamilie, die Zahl der Geschwister oder die (finanziellen) Ressourcen der Eltern sind weitere wichtige Einflussfaktoren (Seiffge-Krenke 2013, 116). Das Familienklima spielt ebenfalls eine Rolle: Häufige und/oder schwerwiegende Konflikte im Elternhaus beschleunigen den Auszug der jungen Generation (Tossi/Gähler 2016, S. 251-252). Es gibt auch Eltern, die den Rollen- und Kontrollverlust, der mit dem „Flüggewerden“ ihrer erwachsenen Kinder einhergeht, nur schwer akzeptieren können. Dies kann so weit gehen, dass sie Strategien entwickeln, um den Auszug zu verzögern (Kloep/Hendry 2010).

Der Zeitpunkt für den Auszug
Das Timing des Auszugs aus dem Elternhaus ist eng mit dem Eintritt in das Berufsleben und der Familiengründung verzahnt (Huinink/Kley 2008). Dabei zeichnet sich eine typische Reihenfolge ab: Der Abschluss einer Berufsausbildung und die Aufnahme der ersten Erwerbstätigkeit erfolgen in der Regel vor dem Auszug. Nach dem Verlassen des elterlichen Haushalts wird meist ein Einpersonenhaushalt gegründet. Mit gewissem Zeitverzug erfolgt dann das Zusammenziehen mit einer Partnerin oder einem Partner (Kley/Huinink 2005). Diese Sequenz, insbesondere die Entkopplung von Auszug aus dem Elternhaus und ehelicher Familiengründung (Hillmert 2005, S. 168), ist stark kulturspezifisch geprägt. Bei jungen Leuten mit türkischem Migrationshintergrund ist z.B. eine unvermindert starke bzw. in den jüngeren Altersgruppen sogar verstärkte Kopplung von Auszug aus dem Elternhaus und Eheschließung festzustellen (Windzio 2011).

Haushalt der Eltern als soziales Sicherungsnetz
Nicht immer markiert der Auszug den Beginn einer eigenständigen Wohnbiographie. Berngruber (2015, S. 1277) schätzt, dass in Deutschland etwa jeder Zehnte der 18- bis 32-Jährigen wieder zu den Eltern zurückgekehrt, nachdem sie eine Zeitlang alleine, mit Partner/in oder in einer WG gewohnt hatten. Eine Rückkehr zu den Eltern erfolgt insbesondere an Wendepunkten des Lebenslaufs, etwa dem Abschluss einer Ausbildung, einem Wechsel des Erwerbsstatus oder als Folge des Auseinanderbrechens einer Partnerschaft (Stone u.a. 2014). Der Haushalt der Eltern dient also in Phasen erhöhter Unsicherheit und des sozialen Abstiegs als Sicherheitsnetz (Swartz u.a. 2011).

Regionale Unterschiede
Der Stadt-Land-Unterschied ist das hervorstechende Merkmal der räumlichen Verteilung der noch im Elternhaus lebenden jungen Erwachsenen. Dieser schwächt sich mit zunehmendem Alter zwar ab, ist aber in allen Altersgruppen und bei beiden Geschlechtern deutlich erkennbar (Karten 1 bis 3, Tabelle 1, Glossar). Ein klarer Zusammenhang besteht auch zwischen der Einwohnerzahl des Wohnorts und dem Anteil der noch im Elternhaus lebenden jungen Frauen und Männer. In allen Altersgruppen gilt: je größer der Wohnort, desto geringer der Anteil der Nesthocker (Grafik 1). Ob die Wahrscheinlichkeit, zeitig aus dem Elternhaus auszuziehen, bei jungen Erwachsenen, die in Großstädten aufgewachsen sind, tatsächlich höher ist als bei „Landkindern“ kann aus den Zensusdaten (Glossar) jedoch nicht abgeleitet werden. Die Großstädte, ebenso wie zahlreiche größere Mittelstädte, profitieren als Hochschulstandorte überproportional von der Zuwanderung junger Erwachsener (Simons/Weiden 2016, S. 264-265). So sinkt dort der relative Anteil der im Haushalt der Eltern lebenden erwachsenen Kinder durch die große Zahl von Zuziehenden aus anderen Regionen, unabhängig vom Auszugsverhalten der Einheimischen.

Deutliche Unterschiede bei jungen Männern und Frauen
In der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen (Karte 1) fällt auf, dass der Anteil der im Haushalt der Eltern lebenden Frauen in weiten Teilen der ländlichen Räume Ostdeutschlands, aber auch einigen dünn besiedelten Kreisen Niedersachsens und Schleswig-Holsteins vergleichsweise niedrig ist, während der Anteil der männlichen Nesthocker über dem Bundesdurchschnitt liegt. Dieses Muster ist auf die höhere Abwanderungsneigung junger Frauen zurückzuführen (Leibert 2016). Eine wichtige Rolle spielt auch das niedrigere Erstgeburtsalter in Ostdeutschland (Klüsener 2013). Der Anteil der Frauen, die mit Anfang 20 allein, als allein erziehende Mutter oder in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft leben, ist in den neuen Ländern deutlich höher als in den alten. Dies unterstreicht die Wechselwirkungen zwischen Auszugsverhalten, Bildungs- und Familienbiographie.

Wer sind die Nesthocker?
Der Prozentsatz der noch im Haushalt der Eltern lebenden jungen Männer ist in allen Altersgruppen und in allen Kreisen deutlich höher als der Anteil der Nesthockerinnen (Karten 1 bis 3). Trotz dieses quantitativen Unterschieds unterscheidet sich das generelle Raummuster kaum: Dort, wo ein hoher Prozentsatz der jungen Männer noch im elterlichen Haushalt lebt, ist auch Anteil der jungen Frauen besonders hoch. Für den Geschlechterunterschied dürfte ursächlich sein, dass Eltern Töchter tendenziell stärker kontrollieren als Söhne und von ihnen auch mehr Mithilfe im Haushalt erwarten. Für junge Frauen bedeutet der Auszug folglich einen größeren Autonomiegewinn als für junge Männer (Berger 2009, S. 209).

Geschlechtsspezifische Unterschiede fallen auch im sozioökonomischen Profil der Nesthocker auf. In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen unterscheidet sich der Anteil der noch im Haushalt der Eltern lebenden Frauen nach Erwerbsstatus kaum. Anders bei den Männern: In der Altersgruppe der 25- bis 34-Jährigen ist die Wahrscheinlichkeit, noch (oder wieder) im Elternhaus zu leben besonders hoch bei Männern mit niedrigem Bildungsniveau, bei Arbeitslosen und ökonomisch Inaktiven. Daraus lässt sich folgern, dass männliche Nesthocker aus ökonomischer Notwendigkeit im „Hotel Mama“ logieren und nicht, wie oft kolportiert wird, weil sie von Mutti und Vati umsorgt werden.

Religionszugehörigkeit beeinflusst das Auszugsverhalten
Neben sozioökonomischen Faktoren wie Arbeitsmarktbeteiligung, Bildungsniveau oder Einkommen beeinflussen auch kulturelle Faktoren wie die Religionszugehörigkeit das Auszugsverhalten. Die kulturellen Faktoren wirken nicht nur direkt, sondern auch indirekt über Altersnormen auf den Ablösungsprozess junger Erwachsener. Gläubige Menschen befürworten tendenziell einen längeren Verbleib erwachsener Kinder im Elternhaus, während Religionsferne eher der Ansicht sind, dass der Nachwuchs möglichst schnell auf eigenen Beinen stehen sollte (Aassve u.a. 2013, S. 395-397). So verwundert es nicht, dass Katholikinnen besonders lang im Haushalt der Eltern wohnen, während konfessionslose junge Frauen besonders früh von zu Hause ausziehen (Weick 2015, S. 3). Zum Einfluss der Religionszugehörigkeit auf das Auszugsverhalten junger Männer liegen keine aktuellen Studien vor. Den Karten kann man entnehmen, dass der Anteil der noch im Elternhaus lebenden jungen Frauen und Männer in allen Altersgruppen in katholisch geprägten ländlichen Regionen Westdeutschlands wie z.B. Niederbayern, dem Emsland und Oldenburgischen Münsterland in Niedersachsen sowie dem Saarland tendenziell besonders hoch ist.

Aassve, Arnstein; Arpino, Bruno u. Francesco C. Billari (2013): Age norms on leaving home: multilevel evidence from the European Social Survey. In: Environment and Planning A 45, Heft 2, S. 383-401.

Berger, Fred (2009): Auszug aus dem Elternhaus – Strukturelle, familiale und persönlichkeitsbezogene Bedingungsfaktoren. In: Fend, H.; Berger, F. u. U. Grob (Hrsg.): Lebensverläufe, Lebensbewältigung, Lebensglück. Ergebnisse der LifE-Studie, S. 195-243. Wiesbaden.

Berngruber, Anne (2015): „Generation boomerang“ in Germany? Returning to the parental home in young adulthood. In: Journal of Youth Studies 18, Heft 10, S. 1274-1290.

Eurostat (Hrsg.) (2016): Census Hub 2011. Luxembourg. URL: www.ec.europa.eu/CensusHub2.
Abrufdatum: 01.11.2016.

Hillmert, Steffen (2005): From old to new structures: A long-term comparison of the transition to adult-hood in West and East Germany. In: Advances in Life Course Research 9, S. 151-173.

Huinink, Johannes u. Stefanie Kley (2008): Regionaler Kontext und Migrationsentscheidungen im Lebenslauf. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 48, S. 162-184.

Iacovou, Maria (2010): Leaving home: Independence, togetherness and income. In: Advances in Life Course Research 15, Heft 4, S. 147-160.

Kley, Stefanie u. Johannes Huinink (2005): Die Gründung des eigenen Haushalts bei Ost- und Westdeutschen nach der Wiedervereinigung. Bremen.
URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-195636.
Abrufdatum: 01.11.2016.

Kloep, Marion u. Leo Hendry (2010): Letting go or holding on? Parents’ perceptions of their relation-ships with their children during emerging adulthood. In: British Journal of Development Psychology 28, Heft 4, S. 817-834.

Klüsener, Sebastian (2013): Geburtenraten und Geburtsalter der Mütter im regionalen Vergleich. In: Nationalatlas aktuell 7 (04.2013) 4 [18.04.2013]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL).
URL: http://aktuell.nationalatlas.de/Geburten.4_04-2013.0.html.

Leibert, Tim (2016): She leaves, he stays? Sex-selective migration in rural East Germany. In: Journal of Rural Studies 43, S. 267-279.

Seiffge-Krenke, Inge (2013): “She’s Leaving Home…” Antecedents, Consequences, and Cultural Patterns in the Leaving Home Process. In: Emerging Adulthood 1, Heft 2, S. 114-124.

Simons, Harald u. Lukas Weiden (2016): Schwarmverhalten, Reurbanisierung und Suburbanisierung. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 3.2016, S. 263-273.

StBA (Statistisches Bundesamt) (Hrsg.) (2016): Zahl der Woche vom 22. November 2016: Gut sechs von zehn  jungen Erwachsenen leben noch bei den Eltern. Wiesbaden. URL: https://www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressemitteilungen/zdw/2016/PD16_47_p002pdf.pdf?__blob=publicationFile.
Abrufdatum: 01.11.2016.

Stone, Juliet; Berrington, Ann u. Jane Falkingham (2014): Gender, Turning Points, and Boomerangs: Returning Home in Young Adulthood in Great Britain. In: Demography 51, Heft 1, S. 257-276.

Swartz, Teresa; Kim, Minzee; Uno, Mayumi; Mortimer, Jeylan u. Kirsten O’Brian (2011): Safety Nets and Scaffolds: Parental Support in the Transition to Adulthood. In: Journal of Marriage and Family 73, Heft 2, S. 414-429.

Tossi, Marco u. Michael Gähler (2016): Nest-leaving, childhood family climate and later parent-child contact in Sweden. In: Acta Sociologica 59, Heft 3, S. 249-268.

Weick, Stefan (2015): Katholikinnen verweilen länger im Elternhaus: Verlaufsanalysen zur Familienbiografie in Deutschland. In: Informationsdienst Soziale Indikatoren 54, S. 1-6.
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Abrufdatum: 01.11.2016.

Windzio, Michael (2011): Linked Life-Events. Leaving Parental Home in Turkish Immigrant and Native Families in Germany. In: Wingens, Matthias; Michael Windzio, Helga de Valk u. Can Aybek (Hrsg.): A Life-Course Perspective on Migration and Integration, S. 187-209. Dordrecht, Heidelberg, London, New York.

Zitierweise
Leibert, Tim (2017): Generation Nesthocker – junge Erwachsene im Haushalt ihrer Eltern. In: Nationalatlas aktuell 11 (01.2017) 1 [05.01.2017]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL).
URL: http://aktuell.nationalatlas.de/Auszug_Elternhaus.1_01-2017.0.html.

Dr. Tim Leibert
Leibniz-Institut für Länderkunde
Schongauerstraße 9
04328 Leipzig
Tel.: (0341) 600 55-188
E-Mail: T_Leibert@leibniz-ifl.de

Zensusdaten versus Volkszählungsdaten
Um das Raummuster des Zusammenlebens von Eltern und ihren erwachsenen Kindern auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte darstellen zu können, ist ein Rückgriff auf die Daten der Volkszählung 2011 notwendig. Die jährlich erhobenen Daten des Mikrozensus sind aufgrund der begrenzten Stichprobengröße zwar für deutschlandweite, aber nicht für kleinräumige Betrachtungen geeignet.