Die regionalen Unterschiede innerhalb Europas nehmen deutlich zu. Dies belegen aktuelle Europakarten zur Wirtschaftskraft und zur Bevölkerungsentwicklung. So verzeichnen die Metropolen und Hauptstadtregionen starke Zuwächse auf Kosten schwächerer Regionen. Die wachsende Polarisierung bedroht den Zusammenhalt in den EU-Mitgliedsländern wie auch der Gemeinschaft insgesamt.

Seit vielen Jahren fördert die Europäische Union durch ihre Kohäsionspolitik insbesondere strukturschwache Regionen mit dem Ziel, eine ausgewogene Entwicklung in allen Teilräumen herzustellen (Glossar) und den sozialen und räumlichen Zusammenhalt der Regionen zu stärken. Trotz aller Bemühungen sind die Unterschiede nach neuesten Zahlen immer noch sehr groß und nehmen weiter zu.

Eine Vielzahl aktueller Studien (zuletzt Iammarino/Rodríguez-Pose/Storper 2017) betont die Bedeutung einer ausgeglichenen Raumentwicklung für die wirtschaftliche, soziale und politische Zukunft Europas. Große regionale Entwicklungsunterschiede sind oft ausschlaggebend für die Abwanderung vor allem junger, gut ausgebildeter Bevölkerungsgruppen und fördern unter den in strukturschwachen Regionen Zurückgebliebenen Gefühle des Abgehängtseins (Neu 2006). Neben internationalen grenzüberschreitenden Süd-Nord- und Ost-West-Wanderungsbewegungen in die wirtschaftlich stärkeren Länder der EU nimmt vor allem innerhalb der einzelnen Länder die sozialräumliche Polarisierung zu (Glossar). Als Gewinner gehen hierbei die großen Stadt- und Metropolregionen hervor – bei zunehmenden Entwicklungsproblemen der übrigen Regionen (Neufeld 2017).

Große regionale Wohlstandsunterschiede
Legt man die regionale Wirtschaftskraft je Einwohner als Indikator für regionalen Wohlstand zugrunde (Glossar), zeigt sich in allen Ländern Europas ein ähnliches Bild: Insbesondere die Hauptstadtregionen, aber auch größere Stadtregionen, profitieren derzeit von einer Konzentration der ökonomischen Entwicklung (Karte 1). Dies gilt für Oslo, Stockholm und Helsinki gleichermaßen wie für London, Paris, Hamburg, München, Madrid oder Rom. Die Hauptstadtregionen liegen fast ausnahmslos deutlich über dem EU-Durchschnitt. Die wirtschaftlich stärkste Region der EU (London City) verbucht mit 1273 Prozent die 55-fache Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung gegenüber der schwächsten Region (Silistra in Bulgarien mit 23 Prozent des EU-Durchschnitts) und immer noch das Dreifache der Städte Wolfsburg (475 Prozent) und Ingolstadt (428 Prozent), die als Produktionsstandorte der Automobilindustrie die beiden stärksten Regionen Deutschlands darstellen.

Besonders deutlich treten die regionalen Entwicklungsunterschiede in den zehn neuen Mitgliedsstaaten im mittleren und östlichen Europa zutage (Grafik 1). In Bulgarien beispielsweise kommt etwa die Hälfte aller Regionen gerade einmal auf eine Wirtschaftsleistung von knapp 30 Prozent des EU-Durchschnitts, während die Hauptstadt Sofia bei etwa 100 Prozent liegt. Im Zeitraum 2003 bis 2014 konnten die schwächsten Regionen kaum zulegen, während die Regionen mit der höchsten Wirtschaftsleistung (in der Regel die Hauptstadtregionen) deutliche Zuwächse erzielten.

Allerdings ist der Median der regionalen Wirtschaftsleistung je Einwohner – also der Wert, der die Regionen eines Landes in zwei gleich große Gruppen teilt – in allen neuen Mitgliedsländern (bis auf Slowenien) angestiegen; in Estland, Litauen und in der Slowakei betrug der Zuwachs nahezu 20 Punkte (Grafik 1). Viele Regionen in diesen Ländern weisen im Vergleich zu 2003 die höchsten Wachstumsraten der Wirtschaftsleistung je Einwohner auf; in der gesamten EU betrug der Zuwachs 28 Prozent (Karte 2). Unter den 50 NUTS-3-Regionen Europas, deren Wert sich gegenüber 2003 mindestens verdoppelte, befinden sich 47 in Mittel- und Osteuropa.

Abgenommen hat die Wirtschaftsleistung je Einwohner in vielen Regionen in Griechenland, Irland und in Italien. 72 von insgesamt 85 Regionen mit einem signifikanten Rückgang und teils massiven Wohlstandseinbußen befinden sich in diesen drei „Krisenländern“; die übrigen entfallen auf Großbritannien, Spanien und Belgien.

Bevölkerungsentwicklung – Wachstum versus Schrumpfung
In Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Wirtschaftsleistung je Einwohner (Karte 3). Der EU-weite Bevölkerungsgewinn von vier Prozent zwischen 2003 und 2016 ist äußerst ungleich verteilt. Ein Plus von insgesamt über zehn Prozent erzielten Irland, Spanien, Schweden und Großbritannien. Teilweise massiv Bevölkerung verloren haben Litauen (minus 16 Prozent), Lettland (minus 14 Prozent), Rumänien (minus neun Prozent), Bulgarien (minus acht Prozent), Estland (minus vier Prozent) und Ungarn (minus drei Prozent).

Neben dieser Verschiebung von Bevölkerungsanteilen auf nationaler Ebene zeigen sich die größeren Entwicklungsunterschiede innerhalb der Staaten auf der regionalen Ebene. Die meisten wirtschaftlich schwächeren Regionen haben zugunsten der Metropolen und Großstadtregionen sowie beispielsweise der attraktiven Küstenregionen in Spanien und Frankreich an Bevölkerung verloren. Hauptsächlich die Hauptstadtregionen und ihr Umland verzeichnen in aller Regel ein deutliches Bevölkerungswachstum. Besonders groß sind auch hier die regionalen Unterschiede in ausgewählten Ländern Mittel- und Osteuropas (Grafik 2). Während die Hauptstadtregionen in Bulgarien, Rumänien, Estland und Ungarn massiv gewachsen sind, müssen die übrigen Regionen Bevölkerungsverluste von teilweise deutlich mehr als 20 Prozent bewältigen.

Resümee
Die dargestellten Befunde machen deutlich, dass die regionale Ungleichheit in Europa weiter voranschreitet. Die zukünftige Regionalpolitik der Europäischen Union und auch der Mitgliedsstaaten sollte diese Entwicklungen angesichts der damit verbundenen sozialen Herausforderungen sehr ernst nehmen. Einfache Rezepte, die zu einer ausgewogenen Entwicklung führen, gibt es nicht, und die aktuellen lokalen Gegenbewegungen werden derzeit politisch weitgehend ignoriert (Hudson 2017). Ein Fokus auf die wirtschaftsstarken Regionen und die Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit, wie er derzeit durch neoliberale Politiken in vielen Ländern Europas gelegt wird, scheint allerdings kontraproduktiv zu sein und bedroht den Zusammenhalt der Mitgliedsländer wie auch der Europäischen Gemeinschaft insgesamt.

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Zitierweise
Lang, Thilo und Stefan Haunstein (2017): Wachsende regionale Polarisierung in Europa. In: Nationalatlas aktuell 11 (09.2017) 8 [27.09.2017]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL).
URL: http://aktuell.nationalatlas.de/Polarisierung_in_Europa.8_09-2017.0.html.

Dr. Thilo Lang
Abteilungsleiter
Regionale Geographie Europas
Leibniz-Institut für Länderkunde
Schongauerstraße 9
04328 Leipzig
Tel.: (0341) 600 55 159
E-Mail: T_Lang@leibniz-ifl.de

Dipl.-Geogr. Stefan Haunstein
Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und Gastwissenschaftler am
Leibniz-Institut für Länderkunde
Schongauerstraße 9
04328 Leipzig
Tel: (0341) 600 55 113
E-Mail: S_Haunstein@leibniz-ifl.de

Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Kaufkraftstandards
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) umfasst den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums und eines bestimmten Gebietes produziert werden. Es wird häufig als Indikator für die wirtschaftliche Entwicklung, die ökonomische Leistungsfähigkeit und den Lebensstandard einer Region oder eines Landes zurate gezogen. Bei vergleichenden länderübergreifenden Analysen wird das BIP in Kaufkraftstandards (KKS) angegeben. KKS stellt eine standardisierte – von der jeweiligen Landeswährung unabhängige – Geldeinheit dar, welche die Unterschiede im Preisniveau zwischen Ländern ausgleicht. Um eine von der Anzahl der Einwohner unabhängige Vergleichsgröße zu erzeugen, wird häufig das BIP pro Kopf verwendet (bpb 2017). Insgesamt ist die Verwendung des BIP als zentraler Indikator für die regionale Entwicklung allerdings umstritten, da u.a. wesentliche soziale und ökologische Funktionen unbeachtet bleiben und sich die allgemeine Lebenszufriedenheit nicht zwangsläufig parallel zur Wirtschaftsleistung entwickelt (Coyle 2016).

NUTS-Regionen
NUTS (französisch: Nomenclature des Unités territoriales statistiques) stellt eine räumlich-hierarchische Klassifizierung der EU-Mitgliedsstaaten dar, die zur Erfassung und Vergleichbarkeit regionalstatistischer Daten dient (Eurostat 2015). Sie ist an die Gebietseinheiten der einzelnen Staaten angelehnt und beinhaltet eine schrittweise Abstufung von NUTS 0 (Nationalstaaten) bis hin zu NUTS 3 (kleinere Regionen und größere Städte). NUTS-3-Regionen bilden bspw. in Deutschland die Kreise und kreisfreien Städte, in Belgien die Arrondissements, in Frankreich die Departements und in der Schweiz die Kantone.

Regionale Polarisierung
Unter dem Begriff der regionalen Polarisierung werden vor allem Entwicklungsunterschiede zwischen den Regionen als räumliche Einheiten innerhalb des Nationalstaats diskutiert. Während aus traditioneller Sicht diese Unterschiede vor allem über die wirtschaftliche Entwicklung definiert werden, betonen neuere Ansätze das soziale und politische Handeln sowie deren diskursive Konstruktion als Auslöser für die Ausdifferenzierung der Regionalentwicklung in prosperierende Zentren und strukturschwache Peripherien (Lang/Henn/Ehrlich/Sgibnev 2015).

Regionalpolitik der EU/Kohäsionspolitik
Unter dem Begriff Kohäsionspolitik werden Maßnahmen verstanden, die darauf abzielen, den sozialen und wirtschaftlichen sowie den regionalen Zusammenhalt zu stärken und somit zu einer ausgewogeneren Regionalentwicklung beizutragen. Auf EU-Ebene wurde die Kohäsionspolitik 1986 im Zuge der Einheitlichen Europäischen Akte verankert. Kamen die Maßnahmen anfänglich vor allem südlichen EU-Regionen zugute, hat sich der Schwerpunkt seit der EU-Erweiterung 2004 auf den osteuropäischen Raum verschoben (siehe Gorzelak u.a. 2017 für eine Darstellung der aktuellen und bisherigen Schwerpunkte der EU-Kohäsionspolitik). Die Maßnahmen der europäischen Kohäsionspolitik werden heute im Kern aus dem Kohäsionsfonds, dem Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und dem Europäischen Sozialfonds (ESF) finanziert.