Das Austauschprogramm Erasmus ist seit seiner Gründung 1987 stetig gewachsen. Rund fünf Millionen Studierende haben bereits daran teilgenommen. Doch mit dem Brexit steht das Flaggschiff-Programm der EU erstmals vor einem Einschnitt: Großbritanniens Austritt aus der EU bedeutet den Wegfall einer wichtigen Destination – auch für deutsche Studierende. Die Bundesrepublik zieht insbesondere Erasmus-Stipendiatinnen und -stipendiaten aus dem Süden Europas an und entwickelt Zugkraft über die EU hinaus: 2016 erreichte die Zahl türkischer Studierender an deutschen Universitäten ihren Höchststand.

Erfolgsstory von Erasmus bedroht
Aus dem heimischen Studienalltag ausbrechen und an anderen Universitäten lernen, das ist heute Alltag für viele Studierende. Mehr als 300.000 (EU 2018a, S. 26) von ihnen haben 2016 am ältesten Bildungsprogramm der EU teilgenommen: Erasmus (Imhoff 2019). Seit dessen Gründung 1987 hat sich die Zahl der Austauschstudierenden von 3.244 auf das fast 100-Fache erhöht und der Kreis teilnehmender Länder inzwischen von elf auf 34 erweitert (EC 2015, S. 4).

Mit dieser Entwicklung ist jedoch erst einmal Schluss. Denn in diesem, spätestens dem nächsten Jahr, wird das Erasmus-Programm eine seiner beliebtesten Destinationen verlieren: Großbritannien. Grund dafür ist der Austritt des Inselstaats aus der EU. Der Verlust für das Erasmus-Programm wird groß sein. Immerhin kamen 2016 mehr als 31.000 Erasmus-Studierende nach Großbritannien, darunter knapp 5.300 aus Deutschland (Karten 1 u. 2). Für Studierende aus der Bundesrepublik gehört das Vereinigte Königreich damit zu den Top drei der Austauschländer.

Frankreich, Spanien und Großbritannien bei Studierenden aus Deutschland am beliebtesten
In der Beliebtheit wird Großbritannien nur von Spanien und Frankreich übertroffen: Gut 6.600 Hochschülerinnen und -schüler zog es 2016 in den Süden und mehr als 5.400 Studierende in den Westen Europas (Karte 1). Mit einigem Abstand folgten auf der Beliebtheitsskala Schweden (2.700 Studierende) und Italien (2.600 Studierende). Jeweils circa 1.900 Austauschstudierende aus der Bundesrepublik gingen in die Niederlande und nach Finnland (EU 2018b). Eine Analyse der Europäischen Kommission zur regionalen Verteilung von Erasmus-Zielen deutscher Studierender sieht die populärsten Programmpartner im Norden Europas (37 Prozent), darauf folgen die südlichen (31 Prozent) sowie die westlichen (26 Prozent) und die östlichen Partnerländer (6 Prozent). Insgesamt wurden 2016 fast 41.000 Erasmus-Studierende aus Deutschland an ausländische Universitäten oder für ein Praktikum an eine öffentliche oder private Einrichtung ins Ausland entsandt (Grafik 1); der Anteil der Studentinnen betrug insgesamt 63 Prozent.

Betrachtet man Deutschland nicht nur als Startpunkt, sondern auch Ziel von Studierendenmobilität (Karte 1), bildet Frankreich den wichtigsten Erasmus-Partner: 4.800 französische Studierende verbrachten 2016 ihren Erasmus-Aufenthalt in der Bundesrepublik. Die zweitgrößte Gruppe von Austauschstudierenden stellt Italien (4.015), darauf folgen ca. 3.800 Hochschülerinnen und -schüler aus Spanien. Zwei Drittel der Erasmus-Stipendiaten an deutschen Universitäten stammen aus südlichen und westlichen Programm-Ländern (69 Prozent). Deutlich weniger kommen aus dem Norden (19 Prozent) und dem Osten (12 Prozent). 2016 verbrachten insgesamt rund 33.000 ausländische Erasmus-Studierende ihren Studien- oder Praktikumsaufenthalt in Deutschland (Grafik 1) – 58 Prozent von ihnen waren Studentinnen.

Türkei wichtigstes Start- und Zielland außerhalb der EU
Eine große Gruppe von gut 2.800 Studierenden kommt aus der Türkei nach Deutschland und damit mehr als aus Großbritannien, mit 2.300 entsandten Studierenden. Für britische Studierende scheint damit ein Studienaufenthalt in Deutschland deutlich weniger attraktiv zu sein als umgekehrt. Ähnlich sieht das Verhältnis der Studierendenmobilität zwischen der Türkei und Deutschland aus: Auf jeden Erasmus-Stipendiaten aus der Bundesrepublik kommen zwei türkische Nachwuchs-Akademiker. Dieses Verhältnis ist offenbar typisch für die Mobilität türkischer Studierender. 2016 standen 13.303 entsandten Hochschülerinnen und -schülern aus der Türkei 2.222 ankommende Studierende gegenüber. Die Türkei weist damit die mit Abstand größte Unausgewogenheit unter den Erasmus-Partnern auf (Karte 2).

Dass für das Austauschprogramm wirtschaftliche und politische Bedingungen eine zentrale Rolle spielen, offenbart der Blick in die Vergangenheit: Im Jahr der globalen Finanzkrise 2007/2008 sank die Zahl der Erasmus-Stipendiatinnen und -stipendiaten aus der Türkei rapide auf knapp 1.900 und vervierfachte sich 2008/2009 auf 7.794 Studierende. Seitdem steigt die Zahl der Entsendungen kontinuierlich.

Die Effekte von Erasmus für Stadt und Land
Ein Zusammenhang zwischen politischen bzw. wirtschaftlichen Bedingungen und der Teilnahme am Erasmus-Programm ist auch bei anderen Ländern offenkundig. Von der Krise stark betroffen sind beispielsweise Spanien oder Griechenland (EC 2013).

Gleichzeitig gehört es zu den Hauptkritikpunkten, dass finanzielle Hemmnisse – wie sie mit einer Finanz- und Wirtschaftskrise einhergehen – die Teilhabe von Studierenden an Austauschprogrammen erschweren (Souto-Otero/Huisman/Beerkens/De Wit/Vujić 2013). Vor diesem Hintergrund ist auch das Anliegen von Erasmus, die Mobilität qualifizierter Arbeitskräfte zu fördern und zur positiven sozioökonomischen Entwicklung der Mitgliedsstaaten beizutragen, ambivalent zu betrachten: Es stellt sich die Frage, ob nicht bestimmte Länder stärker vom Austauschprogramm profitieren als andere und so bereits bestehende Ungleichheiten noch verstärkt werden (González/Mesanza/Mariel 2011).

Kritisiert wird auch, dass Erasmus+ mit seinen inzwischen rund fünf Millionen Hochschulstudierenden (Europäische Kommission 2019) die Schere zwischen Stadt und Land in allen beteiligten Programmländern weiter öffnet – und somit als preistreibender Faktor in engen Wohnungsmärkten fungiert. Schließlich zieht es den Großteil der Erasmus-Stipendiatinnen und -stipendiaten in die Hauptstädte und Metropolregionen. Kleinere Universitätsstädte gelten dagegen als unattraktiv (Van Mol/Ekamper 2016).

Die Beispiele machen deutlich, dass zukünftig nicht nur der Brexit eine Herausforderung für das Erasmus-Programm darstellt, sondern auch die Frage nach einer nachhaltigen und gerechten Entwicklung.

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DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst (Hrsg.) (2018): Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland. Kurze Einführung in das Hochschulsystem und die DAAD-Aktivitäten 2018. URL: https://www.daad.de/medien/der-daad/analysen-studien/laendersachstand/uk_daad_sachstand.pdf
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EU (European Commission Union) (Hrsg.) (2017a): Annual Report 2016. Erasmus+ Enriching lives, opening minds.
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EU (European Commission Union) (Hrsg.) (2017b): Statistical Annex Erasmus+. Annual report 2016.
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EU (European Commission Union) (Hrsg.) (2015b): Annex I Erasmus+ ProgrammeAnnual Report 2014: Statistical Annex. URL: http://ec.europa.eu/assets/eac/education/library/statistics/ar-statistical-annex_en.pdf
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Imhoff, Gabriele (2019): Erasmus+ 2017: Rekordjahr mit über 100.000 Teilnehmern und knapp 1900 Projekten aus Deutschland.
URL: https://ec.europa.eu/germany/news/20190124-erasmus-2017_de
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Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit im DAAD (Hrsg.) (2019): ): Daten zur Studierendenmobilität 2001/02 bis 2016. Bonn.

Nationale Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit im DAAD (Hrsg.) (2017): 30 Jahre Erasmus – Fact Sheet. Bonn. URL: https://eu.daad.de/eudownloadcenter/download/427/
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Souto-Otero, Manuel; Huisman, Jeroen; Beerkens, Maarja, De Wit, Hans u. Sunčica Vujić (2013): Barriers to international student mobility: Evidence from the Erasmus Program. In: Educational Research, Heft 42, 2, S. 70–77. DOI: 10.3102/0013189X12466696

Van Mol, Christof u. Peter Ekamper (2016): Destination cities of European exchange students, In: Geografisk Tidsskrift-Danish Journal of Geography, Heft 116, 1, S. 85-91. DOI: 10.1080/00167223.2015.1136229

Zitierweise
Armas-Díaz, Alejandro u. Anne Köllner (2019): Erasmus – Neue Hürden in der grenzenlosen Bildungslandschaft. In: Nationalatlas aktuell 13 (08.2019) 5 [29.08.2019]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). URL: http://aktuell.nationalatlas.de/erasmus-5_08_2019-0-html/

Dr. Alejandro Armas-Díaz
Universität Leipzig
Institut für Geographie
Johannisallee 19a
04103 Leipzig
Tel.: (0341) 97 32974
E-Mail: alejandro.armas_diaz@uni-leipzig.de

Dipl.-Journ. Anne Köllner
Universität Leipzig
Institut für Geographie
Johannisallee 19a
04103 Leipzig
Tel: (0341) 97 32972
E-Mail: anne.koellner@uni-leipzig.de

Erasmus steht für EuRopean Community Action Scheme for the Mobility of University Students. 1987 ins Leben gerufen, ist es das älteste Bildungsprogramm der EU. Ursprünglich als Austauschprogramm allein für Studierende entwickelt, erweiterte sich der Teilnehmerkreis immer weiter: zunächst auf Hochschuldozentinnen und -dozenten (2000), dann auf Fort- und Weiterbildung von Hochschulpersonal und Praktika (2007), schließlich wurden die Bereiche Berufliche Bildung, Erwachsenenbildung sowie Jugend und Sport in das Programm integriert. Seit 2014 heißt diese erweiterte Form Erasmus+.

Programmländer: Aktuell sind 34 Länder Teil von Erasmus+ — alle 28 EU-Mitglieder sowie Island, Liechtenstein, Nordmazedonien, Norwegen, Serbien und die Türkei.

Unabhängig davon, wo die Erasmus-Teilnehmenden unterwegs sind: Aus Sicht des Landes, das sie verlassen, werden sie Entsandte genannt (outgoings), im Zielland heißen sie Ankommende (incomings).