Wir hören sie, sehen sie aber selten. Sie gehören zu den Schmuckstücken von Sammlungen oder befinden sich in schwindelerregenden Höhen. Im ländlichen Raum zählen sie zu den ältesten beschrifteten Zeugnissen der seit dem Mittelalter entstandenen Kulturlandschaft. Glocken widerspiegeln Siedlungsgeschichte, Abfolgen von Kriegen, von Stadtbränden und Naturschauspielen wie Blitzeinschlägen. Dabei konnten sie, die weißen Flecken auf der Karte zeigen es, zerstört werden oder verloren gehen.

Herstellung von Glocken
Glocken entstehen in einem aufwendigen Verfahren: Auf einer festen Basis aus Holz oder Backstein wird ein Tonzylinder für den künftigen Klangraum, darüber das Model der gewünschten Glocke aus Wachs oder Talg modelliert. Umgeben wird die Form von einem zweiten Tonmantel, der eine Einguss- und Abflussöffnung besitzt. Beim Brennen des Tons verflüssigt sich das Wachsmodel und lässt einen Hohlraum zurück. Dieser wird mit verflüssigtem Metall ausgegossen. Nach dem Abkühlen wird der äußere Mantel der Form zerbrochen. Erst jetzt wird offenbar, ob der Guss gelungen ist. Glocken wurden zuerst im Umfeld von Klöstern, ab dem späten 13. Jahrhundert auch von regional wirkenden bürgerlichen Gießern hergestellt. Die Blüte des Gießerhandwerks im 15. und frühen 16. Jahrhundert, die sich anhand der Dominanz der helleren Signaturen und im Diagramm auf beiden Karten zeigt, widerspiegelt die Blüte der Städte im Spätmittelalter und den massenhaften (Neu-)Bau von Kirchen

Inschriften
Die Beschriftung der Glocke geht mit der Herstellung der Gussform einher. Bis ins 12./13. Jahrhundert wurden die Buchstaben ins Wachs geritzt, sodass die Schrift eingetieft auf dem Glockenguss erschien. Bei dem jüngeren, noch heute gebräuchlichen Verfahren, wird die Schrift plastisch aus Wachs auf dem Wachsmodell angebracht. Entsprechend erscheint sie auf dem Guss erhaben (Foto 1 und 2).

Glockeninschriften erklären die Funktionen der Glocke, beinhalten Datumsangaben und Herstellungsvermerke, sie nennen die Namen der Glocken, von Heiligen und Stiftern und zitieren aus Liturgie und Bibel. In der verbreiteten „Glockenrede“ spricht die Glocke über sich selbst, wie ein Beispiel aus Mörschbach im Rhein-Hunsrück-Kreis zeigt (Foto 1).

Abwehr von Unheil und Unwetter
Die Abwehr von Unheil und Unwetter gehörte zu den grundsätzlichen Funktionen, die der Glocke zugeschrieben wurden. Die ältesten Inschriften brachten dies über die Wirkung von Schriftzeichen zum Ausdruck. So wurden Buchstabenfolgen und Gottesnamen oder -symbole wie Alpha und Omega gebräuchlich. Deutlich wird dies in einem Beispiel aus Bad Gandersheim aus dem 13. Jahrhundert (Foto 2).

Die Symbolkraft von göttlichen Namen und Buchstaben behielt das gesamte Mittelalter hindurch ihre Bedeutung, auch wenn die vier Evangelisten seit dem 13. Jahrhundert am häufigsten als Schutzherren auf Glocken genannt wurden (Karte 2; Glossar). Im Spätmittelalter erscheint Anna, die Mutter Mariens, im Zuge einer verstärkten Marienverehrung als neue Schutzpatronin vor Gewitter.

Regional spezifisch sind aber nicht nur die Schutzheiligen, sondern auch die Texte, die Schutzfunktionen thematisieren. Die am häufigsten vorkommenden Sprüche – Formular 2, 5 sowie Einzelformen auf Karte 1 – haben gemeinsame Wurzeln in lateinischen Versen. Andere Formulare verweisen auf bestimmte Gießerwerkstätten. „NN heiße ich, böse Wetter vertreibe ich“ war in leichten Abwandlungen besonders im Rhein- und Moseltal verbreitet, wobei die unterschiedlichen Werkstätten ihre Namen in den Spruch einfügten. Zeitlich auf den zweiten Teil des 14. Jahrhunderts und bislang nur in der Region Rheinland/Hessen belegt, ist das Gebet „Gott walte des Wetters“ bzw. „Gott Walt’s“ (DI 60, Nr. 50). Ab den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts erscheinen Bittgebete nach dem Muster „Flieh Hagel und Wind, das hilf Maria und ihr Kind“.

Ausblick
Die Kartierung der Glockeninschriften mit Wetterbezug zeigt schon im aktuellen Stand zeitliche Entwicklungslinien und deutliche regionale Unterschiede auf (Glossar), die sich mit anderen historischen oder kunsthistorischen Themen wie spätmittelalterliche Frömmigkeit oder Wirkung und Ausstrahlung von Gießerwerkstätten überschneiden. Doch kann erst eine flächendeckende Erfassung aller erhaltenen und textlich überlieferten Glockeninschriften verlässliche Aussagen über regionale Besonderheiten und verbreitete Gemeinsamkeiten treffen.

Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.) (2006): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. [Unter Mitarbeit von Eduard Hoffman-Krayer]. CD-ROM. Berlin.

Bächtold-Stäubli, Hanns (Hrsg.) (1927-1942): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. [Unter Mitw. von Eduard Hoffmann-Krayer]. 10 Bde. Berlin, Leipzig.

Die Deutschen Inschriften, hrsg. von den Akademien der Wissenschaften in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz, München und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, Bde. 1–5, 8, 12 Stuttgart 1942–1970, Bde. 6, 7, 9, 11 Berlin und Stuttgart 1959–1968, Bd. 10 Wien und Stuttgart 1966, Bde. 13–20, 22 München 1972–1983, Bd. 21 Wien und München 1982, Bde. 23–32, 34–38, 40–47, 49–51, 54, 56–64, 66–71, 73–81, 83–96, 99, 100, 102, 104 Wiesbaden 1984 ff., Bde. 33, 39, 52, 55 Berlin und Wiesbaden 1992–2002, Bde. 48, 65, 72, 82 Wien 1998 ff:

Schilling, Margarete (1988): Glocken. Gestalt, Klang und Zier. [Bilder von Klaus G. Beyer und Constantin Beyer]. Dresden.

Walter, Karl (1913): Glockenkunde. Mit 29 Abbildungen. Regensburg, Rom.

Bildnachweis
Mörschbach, Glocke (1450): Gesamtansicht der Glocke. Nachweis: Mainzer Akademie der Wissenschaften, Inschriftenarbeitsstelle; Foto: Thomas G. Tempel.

Zitierweise
Neustadt, Cornelia (2019): Mittelalterliche Glockeninschriften zur Abwehr von Unheil und Unwetter. In: Nationalatlas aktuell 13 (10.2019) 7 [29.10.2019]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL).
URL: http://aktuell.nationalatlas.de/Glocken.7_10-2019.0.html

Dr. Cornelia Neustadt
Sächsische Akademie der Wissenschaften zu Leipzig
Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Palaisplatz 3
01097 Dresden
E-Mail: neustadt@saw-leipzig.de
Tel.: (0351) 563941 51

Zusatzinformationen/Deteailaufschlüsselung zur Karte 2 „Glockeninschriften – Heilige Namen zur Abwehr von Unwetter“:

Gottesnamen
Name    Anzahl
Alpha und Omega    27
Agla    3
Tetragrammaton    1
Adonai    1

andereUnwetterheilige
Name    Anzahl
Maria Magdalena    5
Michael    5
Bernhard von Clairveaux    4
Cyriakus    3
Veit    2
Helena    1
Scholastika    1
Thomas (von Aquin)    1

Kartengrundlage
„Die Deutschen Inschriften des Mittelalters und der Frühen Neuzeit“ sind ein Forschungsvorhaben von sechs Wissenschaftsakademien in Deutschland und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien, dessen Aufgabe die Sammlung und Edition von Inschriften bis 1650 ist. Inschriften sind Textzeugnisse, die mit handwerklichen Mitteln und Techniken hergestellt wurden.

Für die Kartierung wurden zunächst  die Inschriften aller unzerstörten mittelalterlichen Glocken erfasst, die in 95 für Deutschland vorliegenden Inschriftenbänden (DI) enthalten sind. Dabei sind der ländliche Raum in Nordrhein-Westfalen sowie weite Teile Bayerns und Ostdeutschlands noch nicht bearbeitet.

Das Jahr 1525 erwies sich als notwendiger Schnitt, da sich die Reformation in den Folgejahren rasch im vorkommenden Textrepertoire niederschlägt und die Vergleichbarkeit erschwert. Die Gesamtzahl der bis 1525 gezählten beschrifteten Glocken liegt bei 949. Davon berühren 335 die Abwehr von Unheil und schlechtem Wetter.