In diesem Jahr wird die Tempo 30-Zone in Deutschland 40 Jahre alt. Offiziell wurde die erste am 14. November 1983 im niedersächsischen Buxtehude eingerichtet. Zum runden Jahrestag sind die Diskussionen um 30er- Zonen mit neuer Stärke aufgeflammt. Kommunen und Anwohnerinitiativen drängen auf vereinfachte Möglichkeiten, verkehrsberuhigte Zonen auszuweisen. Sie werden aber von der aktuellen Rechtslage ausgebremst.

Verkehrsunfälle
2022 verloren etwa 2.790 Menschen ihr Leben im Straßenverkehr und ungefähr 353.000 wurden verletzt (Destatis 2022a). Das ist zehn Mal weniger als die jährlichen Todeszahlen der 1970er Jahre – aber immer noch zu viel. Auch wegen der hohen Bevölkerungs- und Verkehrsdichte befinden sich die meisten Unfallschwerpunkte mit Personenbeteiligung in Ballungsräumen (Unfallatlas 2023). Das Problem ist seit Jahrzehnten bekannt. So lesen wir bei Teufel (1988, S. 549): „Zwei Drittel aller Verkehrsunfälle mit Getöteten und Verletzten passieren innerhalb von Ortschaften. Hauptursache sind dabei zu hohe Geschwindigkeiten.“ Auch 2021 lag diese Zahl bei den Personenschäden bei 68 Prozent gegenüber 25 Prozent auf Landstraßen und sechs Prozent auf Autobahnen. Bei den Todesopfern drehen sich die Verhältnisse aber auf Innerorts 29 Prozent und Landstraße 59 Prozent (Destatis 2022b). Dennoch lässt sich feststellen, dass im innerörtlichen Bereich ein großer Handlungsdruck besteht.

Die Anzahl verlorener Menschenleben und Verletzter lässt sich durch verkehrslenkende Maßnahmen deutlich verringern, beziehungsweise ganz auf Null drücken. Diesem Ziel hat sich die Vision Zero-Bewegung verschrieben. Dahinter verbirgt sich der Anspruch, schwächere Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer zu schützen und Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsmittel so sicher zu gestalten, dass es keine Toten und Schwerverletzte mehr gibt. Zum Instrumentenkasten von Vision Zero gehören Sicherheitselemente an Fahrzeugen (etwa Karosserie und Airbag), aber auch Bildungsprogramme, Promillegrenzen, sowie Gurt- und Helm-Vorschriften. Bauliche Maßnahmen, wie Poller oder verringerte Straßenquerschnitte, zwingen Autofahrende zu geringeren Geschwindigkeiten und höherer Aufmerksamkeit. Die Absenkung der in der Bundesrepublik 1957 definierten Regelgeschwindigkeit von innerorts 50km/h auf 30km/h und niedriger würde – ausweislich zahlreicher Studien und Feldversuche seit den 1980er Jahren – einen großen Beitrag zur Verringerung der Zahl von Verkehrstoten und Verletzten leisten. Darüber hinaus hat eine niedrigere Fahrtgeschwindigkeit positive Auswirkungen auf Lärm- und Schadstoffemissionen und trägt zu lebenswerteren und gesünderen Städten bei.

Ausweisung von Tempo 30
Die Ausweisung von Zonen mit Tempo 30 erfolgt gemäß Straßenverkehrs-Ordnung (StVO). Dazu heißt es in § 45 StVO Absatz 1 c “Die Straßenverkehrsbehörden ordnen […] innerhalb geschlossener Ortschaften […] Tempo 30- Zonen im Einvernehmen mit der Gemeinde an” (Glossar). Allerdings sind Bundes- , Land- und Kreisstraßen sowie weitere Vorfahrtstraßen vom Geltungsbereich dieser Vorschrift ausgenommen. Auch bei der praktischen Umsetzung stoßen interessierte Gemeinden schnell an die Grenzen ihrer Befugnisse. Daher hat sich 2021 eine kommunale Initiative gebildet, um mit der Anordnung angemessener Geschwindigkeiten zum Schutz schwächerer Verkehrsteilnehmer und insgesamt zu einer klimagerechten Mobilitätswende beizutragen (Balgaranov 2022). Das Ziel der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ ist es, gesetzliche Grundlagen dafür zu schaffen, auf kommunaler Ebene eigenverantwortlich Geschwindigkeitsbegrenzungen einführen, sowie auf Verkehrsgefahren strategisch und lenkend Einfluss nehmen zu können, anstatt zu warten, bis Unfälle stattgefunden haben (Neumann 2022).

Unterschiedliche Raummuster
Ein Blick auf die Karte zeigt, dass die Spreizung zwischen den Großstädten mit hohen und niedrigen Tempo 30-Anteilen beim innerörtlichen Straßennetz beträchtlich ist. Vor allem Städte im Süden und im Norden Deutschlands, einschließlich Berlin und Potsdam, weisen relativ hohe Anteile von Straßen mit einer maximalen Fahrtgeschwindigkeit von 30 km/h auf. Im Gegensatz dazu scheint es in der Mitte Deutschlands ein relativ breites Band zwischen Mönchengladbach und Dresden zu geben, in dem diese Anteile eher gering sind. Der Schluss liegt nahe, dass die Verkehrspolitik der Bundesländer eine Rolle spielt. Allerdings findet sich der überwiegende Teil der Straßen mit Tempo 30 im Nebenstraßennetz – welches im Gestaltungsbereich der Kommunen liegt. Einzig in Berlin lässt sich auch ein deutlicher Anteil von Tempo 30 im Hauptstraßennetz erkennen: So hat Berlin mit 60 Prozent den höchsten Anteil aller Großstädte. Auf dem zweiten Rang folgt Reutlingen mit 58 Prozent, wobei die Hauptstraßen mit einer Länge von insgesamt zehn Kilometern nur einen sehr kleinen und kaum sichtbaren Anteil von ca. zwei Prozent haben (Karte). Auf der anderen Seite sind in den beiden Städten mit Prozentwerten von unter 20 – Salzgitter und Koblenz – die Anteile zwischen Haupt- und Nebenstraßen fast ausgeglichen.

Offenbar lässt das Straßennetz gar nicht so viele Ausweisungen auf Tempo 30 zu: Hochrangige Straßen wie Bundesfernstraßen, die einer weiträumigen Erschließung mit hohen Geschwindigkeiten dienen sollen und nicht unter die Tempo 30- Zonen-Regelung nach StVO fallen, schränken die Handlungsmöglichkeiten für diese Städte von vornherein ein. Siedlungsstruktur und Bevölkerungsdichte spielen beim Anteil des Vorfahrtstraßennetzes ebenfalls eine Rolle. Möglicherweise macht auch der zur Verfügung stehende Platz in den Städten eine Ausweisung nicht notwendig – beispielsweise wenn genügend Platz besteht, um Radfahrer separat zu führen. Welche konkreten Handlungsspielräume die Großstädte haben und wie sie diese ausnutzen, wird in einem weiteren Beitrag gezeigt.

Darüber hinausgehende Erklärungsversuche wie Bevölkerungsanzahl, politische Ausrichtung oder Gewerbesteueraufkommen scheinen keine klare Auswirkung auf die Ausweisung von Tempo 30- Zonen in deutschen Großstädten zu haben. Angesichts der geringen Aussagekraft von Korrelationen sind weiterführende qualitative Forschungsansätze vonnöten: etwa zur politische Ausrichtung kommunaler Akteure, zu Mobilitätsvisionen der betreffenden Straßenverkehrsbehörden, zur Verankerung des Themas Verkehrsberuhigung in Verkehrsentwicklungsplänen oder zur Rolle lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure, wie beispielsweise dem ADFC (Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club).

Balgaranov, Denis (2022): Over 260 German cities band together to demand 30 km/h speed zones. The Mayor 28.08.2022. URL: https://www.themayor.eu/en/a/view/over-260-german-cities-band-together-to-demand-30-km-h-speed-zones-10854?utm_source=substack&utm_medium=email
Abrufdatum: 01.02.2023

Destatis (Statistisches Bundesamt) (Hrsg.) (2022a): Zahl der Verkehrstoten steigt im Jahr 2022 voraussichtlich deutlich auf rund 2 790, Pressemitteilung Nr. 512 vom 5. Dezember 2022. URL: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/12/PD22_512_46241.html
Abrufdatum: 13.03.2023

Destatis (Statistisches Bundesamt) Hrsg.) (2022b): Verkehrsunfälle 2021: Neuer Tiefststand bei Verkehrstoten und Verletzten, Pressemitteilung Nr. 286 vom 7. Juli 2022: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/07/PD22_286_46241.html
Abrufdatum: 13.03.2023

Ettemeyer, Hans und Julia Reiss (2013): Pioniere der Langsamkeit. In: Weser-Kurier. URL: https://www.weser-kurier.de/niedersachsen/pioniere-der-langsamkeit-doc7e3quxjx1dhkm7i6ktm
Abrufdatum: 01.02.2023

Neumann, Peter (2022): Brandbrief der Stadträte an den Verkehrsminister: „Unsere Straßen müssen sicherer werden!“ In Berliner Zeitung vom 5. Oktober 2022. URL: https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/berlin-brandbrief-der-stadtraete-an-den-verkehrsminister-unsere-strassen-muessen-sicherer-werden-li.273573
Abrufdatum: 01.02.2023

OpenStreetMap (2022): Abfrage des Parameters “maxspeed“. Der Zugriff erfolgte unter Verwendung der „Overpass API“ am 25.05.2022 sowie am 12. und 13.10.2022. URL: https://www.openstreetmap.org/

StVO (Straßenverkehrs-Ordnung): § 45 Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen. URL: https://www.gesetze-im-internet.de/stvo_2013/index.html
Abrufdatum: 01.02.2023

Teufel, Dieter (1988): Stadt und Verkehr. In: Gewerkschaftliche Monatshefte GMH 9/88, S. 542-553.

Unfallatlas (2023). Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hrsg.). URL: https://unfallatlas.statistikportal.de/
Abrufdatum: 13.03.2023

Weil, Lisa Erzsa (2023): Tempo 30? Geht nicht: Ernüchternde Senats-Antwort an Berliner Initiative. In: Tagesspiegel. URL: https://www.tagesspiegel.de/berlin/tempo-30-geht-nicht-ernuchternde-senats-antwort-an-berliner-initiative-9446153.html
Abrufdatum: 01.02.2023

Danksagung
Die Autoren bedanken sich bei Alina Rogalska (IfL) für die Abfrage der OpenStreetMap-Daten. Die Abfrage des Parameters “maxspeed“ erfolgte unter Verwendung der „Overpass API“ am 25. Mai 2022 sowie am 12. und 13. Oktober 2022. Ebenfalls gilt unser Dank Matthias David (TU Berlin) und Janna Aljets (Agora Verkehrswende) für sachdienliche Hinweise und Einordnungen.

Bildnachweis
Tempo 30 in einer Hauptstraße in Leipzig; V. Bode © IfL

Zitierweise
Hanewinkel, Christian und Wladimir Sgibnev (2023): Tempo 30 in Großstädten. In: In: Nationalatlas aktuell 17 (02.2023) 2 [202.03.2023]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). URL: https://aktuell.nationalatlas.de/tempo_30-2_03-2023-0-html/

 

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Dipl.-Geogr. Christian Hanewinkel
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Dr. Wladimir Sgibnev
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Schongauerstraße 9
04328 Leipzig
Tel: 0341 600 55-161
E-Mail: w_sgibnev@leibniz-ifl.de

Straßenverkehrs-Ordnung
Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) der Bundesrepublik Deutschland ist eine Rechtsverordnung im Aufgabenbereich des Bundesverkehrsministeriums. Änderungen an der StVO können nur mit Zustimmung des Bundesrates erfolgen. Die Umsetzung der StVO erfolgt durch die Straßenverkehrsbehörden.

Zur Methode
Um den derzeitigen Stand hinsichtlich der Einführung und Umsetzung einer Maximalgeschwindigkeit von 30 km/h in den Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern zeigen zu können, wurden auf Grundlage von OpenStreetMap-Daten (OSM) die Anteile der Vorfahrtsstraßen – die bei OSM Hauptstraßen heißen – und die Anteile der Nebenstraßen mit maximal Tempo 30 am Gesamtstraßennetz der betreffenden Städte berechnet (OpenStreetMap 2022). Die Karte zeigt farblich diese Anteile je Stadt. Der Datenabruf für diese Aussage erfolgte am 25.05.2022. Die Signaturen zeigen weiterhin die Länge des Gesamtstraßennetzes und wie es in Haupt- und Nebenstraßen unterteilt ist. Diese Daten wurden am 12. und 13.10.2022 aus der OSM-Datenbank abgerufen. Die zweite Datenabfrage war notwendig, da bei der ersten Abfrage die Differenzierung zwischen Haupt- und Nebenstraßen nicht berücksichtigt wurde. Eine Veränderung des Ergebnisses der Klassifizierung hätte sich aus dem zweiten Abruf nicht ergeben.

Bei der Analyse von Crowdsource-Daten (Daten, die von Freiwilligen erfasst und zur Verfügung gestellt werden), wie in diesem Fall bei OpenStreetMap (2022), bestehen grundsätzliche Ansatzpunkte für Kritik: Welche Daten wurden wie, von wem und zu welchem Zweck kartiert? Zudem ist nicht nachvollziehbar, ob zum Stichtag des Datenabrufs alle Tempo-30-Straßenabschnitte abgebildet waren und ob und wie etwa temporäre Zonen mit in die Datengrundlage eingeflossen sind. Darüber hinaus wird bei OpenStreetMap nicht der jeweilige Grund für die Ausweisung der Geschwindigkeitsbeschränkung (beispielsweise Verkehrssicherheit oder Lärmschutz) dokumentiert. Aufgrund der vorliegenden Datenstruktur wurden Autobahnen in doppelter Länge gerechnet. Diese Aspekte führen zu einer gewissen Verzerrung. Sie schränken allerdings nach eigener Einschätzung die Gesamtaussagekraft der Analyse nicht ein.