Europa ist mehr als ein geographischer Erdteil. Es steht auch für das politische Projekt der europäischen Einigung, das sich in vielen Verträgen und Institutionen konkretisiert. Darüber hinaus verbindet sich mit dem Begriff die Idee eines historisch gewachsenen Kulturraums.

Europa – ein Kontinent?
Als Erdteil, also als ein Ausschnitt der Erdoberfläche, ist Europa einer von sechs oder sieben Kontinenten. Genau genommen ist Europa jedoch kein eigenständiger Kontinent im Sinne einer großen zusammenhängenden Festlandsmasse, sondern nur der westliche Teil von Eurasien.

Aber wo endet Europa und wo beginnt Asien? Über die Jahrhunderte hat es hierzu die verschiedensten Vorschläge gegeben (Wienecke 2022). Meist wurden Flüsse wie Djnepr, Don oder Wolga als östliche Grenze angeführt. Durchgesetzt hat sich aber die Auffassung, Europa am Uralgebirge enden zu lassen (Faßmann 2005). Die Ural-Grenze ist also keine selbstverständliche, natürliche Grenze, die – einmal entdeckt – Wahrheitsanspruch entfaltet, sondern eine Absprache. Folglich ist auch nicht selbstverständlich, was zu Europa gehört und was nicht.

Ein Urlauber, der eine Reiseversicherung Europa abgeschlossen hat und wissen möchte, ob der Schutz auch gilt, wenn er mit der Fähre in Istanbul auf die asiatische Seite übersetzt, sollte kein Lexikon zu Rate ziehen, sondern im Kleingedruckten nachlesen, wie sein Vertrag Europa abgrenzt.

Welche Staaten gehören zu Europa? Zählt Russland dazu, obwohl der größte Teil seiner Fläche in Asien liegt? Was ist mit der Türkei (drei Prozent Fläche in Europa) und was mit Kasachstan (fünf Prozent)? Warum konnte Zypern Mitglied der Europäischen Union (EU) werden und wird oft zu den europäischen Staaten gezählt, obwohl die Insel nahe dem asiatischen Festland liegt? Der Beitrittsantrag Marokkos wurde 1987 hingegen mit der Begründung abgelehnt, das Land läge nicht in Europa.

Das Projekt Europa
Offenbar spielt bei solchen Zuordnungen nicht nur die Lage im materiellen Raum, sondern auch in einem abstrakten, geistig-kulturellen Raum eine Rolle (Lichtenberger 2005). Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck hat hier – einen Gedanken seines Vorgängers Theodor Heuss aufgreifend – das eingängige Bild von einem Europa entworfen, dass auf drei Hügeln errichtet wurde, dem Athener Areopag (Demokratie) dem Römischen Capitol (Staatswesen, Recht) und Golgota bei Jerusalem (Christentum, Menschenwürde) (Gauck 2014). Man sollte in der Aussage jedoch keine Tatsachenbeschreibung sehen, sondern eine wirkungsmächtige Identitätskonstruktion.

Bei weitläufiger Abgrenzung und für den Zweck dieses Beitrags umfasst Europa unter Einbeziehung der Zwerg- bzw. Mikrostaaten (Andorra, Liechtenstein, Monaco, San Marino und die Vatikanstadt), Russlands, der Türkei, Zyperns und der kaukasischen Länder (Armenien, Aserbaidschan und Georgien) insgesamt 50 Staaten.

Europa ist nicht nur ein Erdteil und ein gewachsener Kulturraum, sondern auch ein Projekt. Wer von sich behauptet, ein überzeugter Europäer zu sein, drückt damit nicht seine Gewissheit aus, von hier zu stammen. Vielmehr betont er seine positive Einstellung gegenüber dem Projekt des europäischen Einigungsprozesses. Ebenso zweifelt ein Europaskeptiker nicht an seiner Herkunft, sondern sieht z. B. die Macht der Brüsseler Bürokratie kritisch.

Besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat der Projektaspekt des Europabegriffs an Bedeutung gewonnen. Vor dem Hintergrund von zwei Weltkriegen, die Millionen von Opfern forderten und weite Teile Europas verwüsteten, hat die Idee eines gemeinsamen, friedlichen Europa viele Menschen überzeugt.

Die heutige Europäische Union begann 1957 mit sechs westeuropäischen Gründungsmitgliedern. In den 1970er- und 1980er-Jahren kamen sechs weitere westliche Staaten dazu. Nach 1990 (Wegfall des Eiserenen Vorhangs) öffnete sich die EU nach Osten und zählt heute 27 Mitglieder. Sieben weitere Länder haben aktuell Kandidatenstatus (Karte 1). Georgien hat am 1. März 2022 einen Beitrittsantrag gestellt (EU 2022b) und zählt neben Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo zu den möglichen Kandidaten. Der Integrationsprozess in der EU verläuft nicht einheitlich. Man spricht von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Nicht alle EU-Staaten haben die gemeinsame Währung Euro eingeführt und die Kontrollen an den Binnengrenzen (Schengenraum) eingestellt. In 19 der 27 EU-Staaten ist der Euro aktuell gesetzliches Zahlungsmittel, und am 1. Januar 2023 erfolgt die Aufnahme Kroatiens in den Euroraum (Euro-Zone). Mit Euro wird auch in den Zwergstaaten, mit Ausnahme von Liechtenstein, und zwei weiteren Ländern (Montenegro, Kosovo) bezahlt. Zum Schengenraum gehören 22 EU-Staaten und die vier EFTA-Staaten (European Free Trade Association, Europäische Freihandelsassoziation); auch die Zwergstaaten verzichten auf Grenzkontrollen (Karte 1).

Die EFTA stellte in den 1960er-Jahren eine Alternative zur EU (damals EWG, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft) dar. In der EFTA hatten sich zehn Staaten zusammengefunden, die den Abbau von Handelsschranken anstrebten, aber keine politische Integration. Sechs EFTA-Staaten schlossen sich später der EU an, sodass die EFTA heute nur noch vier Mitglieder zählt. Drei dieser Staaten haben wiederum eine Freihandelsvereinbarung mit der EU unterzeichnet und bilden mit dieser den EWR (Europäischer Wirtschaftsraum). Nur die Schweiz hat es abgelehnt, dem EWR beizutreten.

Institutionen und Organisationen
Europa konkretisiert sich auch in zahlreichen weiteren Institutionen und Organisationen. In Umrissdarstellungen ihrer Mitglieder beziehungsweise Gültigkeitsbereiche ergeben sich unterschiedliche thematisch-faktische Grenzen Europas (Karte 2 und 3).

Eine der räumlich umfassendsten europäischen Organisationen ist die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa). An der OSZE, dem Nachfolger der KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), beteiligen sich alle europäischen Staaten. Eine sehr hohe Mitgliedschaft weist auch der 1949 gegründete Europarat auf. Der Europarat bietet ein Forum zum Meinungsaustausch. Ihm ist auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte angegliedert. Augenblicklich gehören dem Europarat 46 der 50 europäischen Staaten an. Russland wurde im März 2022, nach dem Angriff auf die Ukraine, ausgeschlossen. In Europa gibt es zudem mit der NATO (North Atlantic Treaty Organization) und der OVKS (Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit) zwei militärische Allianzen (Karte 2).

Auch der europäische Kontinentalverband im Fußball geht über die konventionellen Grenzen Europas hinaus (Karte 2). Die UEFA (Union of European Football Associations) ist eine der sechs Kontinental-Konföderationen des Weltfußballverbandes FIFA (Fédération Internationale de Football Association) und umfasst insgesamt 55 nationale Fußballverbände, darunter auch Israel.

Die Mitgliedschaft in der Europäischen Rundfunkunion (EBU) (Karte 3) gilt für Rundfunkanstalten, deren Länder zum Europäischen Rundfunkraum (European Broadcasting Area) gehören, wie von der Internationalen Fernmeldeunion definiert, oder Mitglieder des Europarates sind. Das belarussische Mitglied wurde im Mai 2021 aus der Union suspendiert; die russischen Mitglieder im Mai 2022.

Die Europäische Patentorganisation (EPO) ist eine zwischenstaatliche Einrichtung, die 1977 auf der Grundlage des 1973 unterzeichneten Europäischen Patentübereinkommens gegründet wurde. Der EPO gehören derzeit 38 Mitgliedstaaten (darunter alle 27 EU-Staaten) an. Darüber hinaus werden europäische Patente in zwei Erstreckungsstaaten (europäische Patente können auf Bosnien-Herzegowina und Montenegro erstreckt werden) und vier Validierungsstaaten (europäische Patente können in Marokko, Moldau, Tunesien und Kambodscha geltend gemacht werden) anerkannt.

Resümee
Die Ausführungen mögen für Leserinnen und Leser, die eine einfache Antwort auf die Frage erwarteten, was Europa heißt und wo seine Grenzen liegen, nicht vollauf befriedigend sein. Hier sei noch einmal auf den ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck verwiesen, der in der oben zitierten Rede ergänzte: „Zugleich wissen wir: Europa lässt sich unglaublich schwer vermessen.“ (Gauck 2014)

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Bildnachweis
Gebäude des Europarats in Straßburg, (Frankreich). S. Lentz © IfL

Zitierweise
Burdack, Joachim und Volker Bode (2022): Was heißt Europa? In: Nationalatlas aktuell 16 (08.2022) 6 [25.08.2022]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). URL: https://aktuell.nationalatlas.de/Europa-6_08_2022-0-html/

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