Die wachsende Heterogenität, Vielfalt und Komplexität der Gesellschaft in Deutschland ist ein viel diskutiertes Thema. Im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte stehen die Gegensätze zwischen Reich und Arm, Leistungsträgern und Abgehängten und nicht zuletzt zwischen Stadt und Land. Die vielfältigen Polarisierungen der Gesellschaft sind auch bei der letzten Bundestagswahl im Herbst 2017 deutlich geworden. Die Deutschlandkarte zum Wahlverhalten zeigt markante regionale Raummuster.

„Als den Volksparteien das Volk davonrannte“, titelte die Süddeutsche Zeitung nach den letzten Bundestagswahlen im September 2017 (SZ vom 25.12.2017). Und tatsächlich: Während in den 1970er-Jahren CDU und SPD gemeinsam noch auf rund 90 Prozent der Stimmen kamen, gab zuletzt nur noch jeder zweite Wähler seine Stimme einer der beiden Parteien. Statt drei Fraktionen (1961–1983) sind im 19. Deutschen Bundestag nunmehr sechs vertreten. Diese Entwicklungen lassen sich im Kern auf zwei gesellschaftliche Trends zurückführen. Zum einen ist eine anhaltende Tendenz zum Individualismus festzustellen: An die Stelle traditioneller Klassengrenzen und fester Parteienbindungen sind komplexe Milieus und unbeständige Wahlverhalten, auch jenseits klassischer Rechts-Links-Muster, getreten (Beck/Hajer/Kesselring 1999, Jun 2011). Zum anderen scheinen sich vor dem Hintergrund von Globalisierung und wachsenden Unsicherheiten immer mehr Menschen von der Gesellschaft abgehängt zu fühlen und ihre Hoffnungen in Parteien abseits der Mitte zu legen (Hilmer/Kohlrausch/Müller-Hilmer/Gagné 2017; Franz/Fratzscher/Kritikos 2018). Diese Hypothese ist allerdings nicht unumstritten. So konnte Lengfeld (2017) anhand von Umfragedaten zur Wahlabsicht zeigen, dass nicht die „Modernisierungsverlierer“, sondern Personen mit mittlerem und höherem sozialen Status die höchste Neigung zeigen, ihre Stimme der AfD zu geben.

Regionale Unterschiede im Wahlverhalten
Um die regionalen Unterschiede im Wahlverhalten greifbarer zu machen, haben die Autoren auf Grundlage einer Clusteranalyse (Glossar) für die Bundestagswahlen 2017 (Karte 1) und 2013 (Karte 2) sieben bzw. acht Gruppen bzw. Typen gebildet, die das Spektrum des Wahlverhaltens mit Blick auf die Ergebnisse der im Bundestag vertretenen Parteien abbilden. Dabei zeigen sich bezüglich der Abweichung der Stimmenanteile auf der Kreisebene vom bundesweiten Endergebnis ausgeprägte Differenzen. Deutlich werden zunächst die starken Unterschiede zwischen neuen und alten Ländern, aber auch ausgeprägte Stadt-Land-Unterschiede in Westdeutschland.

Regionale Parteiensysteme zwischen Stabilität und Wandel
Die westdeutschen Groß- und Universitätsstädte waren sowohl 2013 als auch 2017 Hochburgen (Glossar) der Grünen; auch die Linkspartei kann in diesen urbanen Milieus zunehmend Fuß fassen (Typ 1). Zu diesem eher großstädtisch geprägten Typ gehören auch Landkreise mit bedeutenden Universitätsstädten (z.B. Lüneburg und Tübingen), das Freiburger Umland sowie der Landkreis Lüchow-Dannenberg, der sich durch den Protest gegen das Atommülllager Gorleben zu einer Hochburg der Grünen entwickelt hat.

Die Hochburgen der SPD (Typ 2) konzentrierten sich sowohl 2013 als auch 2017 im Ruhrgebiet, in Ostfriesland, Nordhessen und Südniedersachsen.

Der vorwiegend in ländlichen Räumen Nord- und Westdeutschlands vorherrschende Typ 3 repräsentiert für die Bundestagswahl 2017 in etwa das durchschnittliche Wahlverhalten der alten Länder – die AfD ist in den zu Typ 3 gehörenden Kreisen vergleichsweise schwach.

Katholisch geprägte Regionen wie das Emsland und Münsterland sowie die Eifel sind traditionelle Hochburgen der CDU; 2017 haben dort auch die Liberalen gut abgeschnitten, während Grüne, Linke und AfD in diesen bürgerlich-konservativ geprägten Landesteilen nur schwer Fuß fassen können (Typ 4). Bei den Unionshochburgen zeichnen sich im Vergleich der Bundestagswahlen 2013 und 2017 die größten Verschiebungen ab. Weite Teile von Niederbayern, der Oberpfalz und Frankens gehörten 2013 wie die genannten westdeutschen CDU-Hochburgen ebenfalls zu Typ 4. In Bayern hat sich bei der Bundestagswahl 2017 ein eigenes Muster des Wahlverhaltens herauskristallisiert (Typ 6), das durch überdurchschnittliche CSU- und AfD-Anteile, leicht unter dem Bundesmittel liegende Wahlergebnisse von FDP und Grünen sowie eine Schwäche der linken Parteien charakterisiert ist.

Baden-Württemberg als das „Stammland der Liberalen“ (z.B. Havlik 2013, S. 59) und das einzige Bundesland mit einem grünen Ministerpräsidenten fällt auch auf der Bundesebene durch hohe Stimmenanteile dieser Parteien auf (Typ 5). SPD und Linkspartei haben auch im „Ländle“ außerhalb der Großstädte einen schwachen Stand, während CDU und AfD relativ stark sind. Dass die AfD in den alten Ländern gerade in wirtschaftsstarken Kreisen mit Vollbeschäftigung und hohem Einkommensniveau besonders stark ist, zeigt auch aus einer räumlichen Perspektive, dass die „Modernisierungsverlierertheorie“ den AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl 2017allenfalls teilweise erklären kann.

Ostdeutschland zeichnet sich auch fast drei Jahrzehnte nach der Vereinigung durch ein deutlich von den westdeutschen Mustern abweichendes Wahlverhalten aus. AfD und Linke fahren im Osten bessere Wahlergebnisse ein als im Westen (Typ 7). Die Stimmenanteile der übrigen im Bundestag vertretenen Parteien liegen dagegen im Osten unter den westdeutschen Werten. Dies gilt insbesondere für SPD und Grüne, die in den neuen Ländern besonders schwach sind. In Ostdeutschland hat sich die politische Landschaft durch die AfD, die die Linkspartei als zweitstärkste Kraft hinter der CDU abgelöst hat, stark verändert.

Ostsachsen (Typ 8) stellt im ostdeutschen Kontext einen Sonderfall dar: In der Region Dresden hat die AfD bei der Bundestagswahl 2017 die CDU als stärkste Kraft abgelöst und drei Direktmandate gewonnen.

Die Linkspartei ist aus der Bundestagswahl 2017 sowohl als Gewinner (Westdeutschland) als auch als Verlierer (Ostdeutschland) hervorgegangen – trotz Gewinn des Direktmandats im Wahlkreis Leipzig II. Diese Verschiebung wird auch darin deutlich, dass das 2013 für Brandenburg, Sachsen-Anhalt und die ostdeutschen kreisfreien Städten charakteristische Muster mit sehr starker Linken und (für ostdeutsche Verhältnisse) relativ schwacher AfD (Typ 6/2013, Karte 2) bei der Bundestagswahl 2017 nicht mehr auftritt.

Ausblick
Die politische Landschaft in Deutschland bleibt in Bewegung, sowohl auf der Bundes- als auch auf der Landes- und der kommunalen Ebene. In Wissenschaft und Medien wird vor allem nach Erklärungen für die Etablierung einer Partei rechts der Union im deutschen Parteienspektrum gesucht. Wenn der Wahlerfolg der AfD bei der Bundestagswahl aus räumlicher Perspektive diskutiert wird, stehen in der Regel der Ost-West- und der Land-Stadt-Gegensatz im Vordergrund.

Auf ein erstaunlich geringes Interesse stößt hingegen das ausgeprägte Süd-Nord-Gefälle in den alten Ländern. Kaum Beachtung findet auch, dass die Linke derzeit verstärkt in Westdeutschland Fuß zu fassen scheint. Aktuellen Umfragen zufolge (wahlrecht.de, Abfrage vom 15.05.2018) hätte die Partei gute Chancen, in zahlreiche Landtage einzuziehen – lediglich in Baden-Württemberg, Bayern und Rheinland-Pfalz sagen die Demoskopen der Linkspartei in der „Sonntagsfrage“ weniger als fünf Prozent voraus. Spannend zu beobachten sein werden in diesem Zusammenhang auch die zukünftigen Entwicklungen der beiden Volksparteien SPD und CDU: Gelingt es ihnen, verloren gegangene Wählerstimmen an den Rändern des politischen Spektrums wieder einzufangen? Inwiefern lassen sie sich in diesen Bestrebungen auch zu ungewohnten Tönen und Ausrichtungen hinreißen? Und gegenüber welchen neuen Koalitionen werden sich beide öffnen (müssen), damit sich das parteienpolitische Spektrum nicht weiter ausdifferenziert? So lauten gegenwärtig viel diskutierte Fragen. Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen im Oktober 2018 werden Antworten liefern, aber sicher auch neue Fragen aufwerfen.

Backhaus, Klaus; Erichson, Bernd; Plinke, Wulff und Rolf Weiber (2006): Multivariate Analysemethoden. Eine anwendungsorientierte Einführung. Berlin u. a.

Bahrenberg, Gerhard; Giese, Ernst; Mevenkamp, Nils und Josef Nipper (2008): Statistische Methoden in der Geographie Band 2: Multivariate Statistik. Berlin, Stuttgart.

Baum, Sabine und Peter Weingarten (2004): Typisierung ländlicher Räume in Mittel- und Osteuropa. In: Europa Regional 12 (3), S. 149-158.

Beck, Ulrich; Hajer, Maarten und Sven Kesselring (1999): Der unscharfe Ort der Politik – eine Einleitung. In: Ebd. (Hrsg.): Der unscharfe Ort der Politik. Empirische Fallstudien zur Theorie der reflexiven Modernisierung. Opladen, S. 7–20.

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Abrufdatum: 15.05.2018.

Havlik, Jan (2013): Hermann Müller (1913-1991). In: Reinhold-Maier-Stiftung Baden-Württemberg (Hrsg.): Liberale und Demokraten der ersten Stunde (=Schriftenreihe der Reinhold-Maier-Stiftung zur Geschichte, Praxis und Programmatik des Liberalismus in Baden-Württemberg, Band 35), S. 59-62.

Hilbig, Antje und Wilhelm Steingrube (1999): Wahlhochburgen in den alten Ländern 1976-1998. In: Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland/ Bd. 1 Gesellschaft und Staat / Institut für Länderkunde, Leipzig (Hrsg.). Mitherausgegeben von Heinritz, Günter; Tzschaschel, Sabine und Klaus Wolf. Heidelberg, Berlin. 1. Auflage, S. 52-53.

Hilmer, Richard; Kohlrausch, Bettina; Müller-Hilmer, Rita und Jérémie Gagné (2017):
Einstellung und soziale Lebenslage. Eine Spurensuche nach Gründen für rechtspopulistische Orientierung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern. (= Hans-Böckler-Stiftung Working Paper 044, August 2017). URL: https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_044_2017.pdf.
Abrufdatum: 15.05.2018.

Jun, Uwe (2011): Die Repräsentationslücke der Volksparteien: Erklärungsansätze für den Bedeutungsverlust und Gegenmaßnahmen. In: Linden, Markus und Winfried Thaa (Hrsg.): Krise und Reform politischer Repräsentation. Baden-Baden, S. 95-123.

Lengfeld, Holger (2017): Die „Alternative für Deutschland“: eine Partei für Modernisierungsverlierer? In: KZfSS-Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 69, Heft 2, S. 209-232.

SZ – Süddeutsche Zeitung (2017): Als den Volksparteien das Volk davonrannte. Von Hannah Beitzer, 25. Dezember 2017. URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahl-als-den-volksparteien-das-volk-davonrannte-1.3798822.
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Wahlrecht.de (2018): Landtagswahlumfragen: Wenn am nächsten Sonntag Landtagswahl wäre …
Zusammengestellt von Wilko Zicht und Matthias Cantow.
URL: http://www.wahlrecht.de/umfragen/landtage/index.htm.
Abrufdatum: 15.05.2018.

Zitierweise
Leibert, Tim und Stefan Haunstein (2018): Wahlverhalten macht zunehmende Differenzierung der Gesellschaft deutlich. In: Nationalatlas aktuell 12 (06.2018) 3 [06.06.2018]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). URL: http://aktuell.nationalatlas.de/Wahlgeographie.3_06-2018.0.html.

Dr. Tim Leibert
Leibniz-Institut für Länderkunde
Schongauerstraße 9
04328 Leipzig
Tel.: (0341) 600 55-188
E-Mail: T_Leibert@leibniz-ifl.de

Dipl.-Geogr. Stefan Haunstein
Promotionsstipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung und Gastwissenschaftler am
Leibniz-Institut für Länderkunde
Schongauerstraße 9
04328 Leipzig
Tel: (0341) 600 55 113
E-Mail: S_Haunstein@leibniz-ifl.de

Clusteranalyse als methodische Basis
Im vorliegenden Beitrag wurden für eine hierarchische Clusteranalyse die Stimmenanteile von CDU/CSU, SPD, AfD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen der beiden Bundestagswahlen 2017 und 2013 herangezogen. Da zwischen den Wahlergebnissen von Union (CDU/CSU) und Linkspartei auf der Kreisebene eine starke (negative) Korrelation besteht, wurden die Zweitstimmenanteile der Partei Die Linke aus methodischen Gründen bei der Berechnung der Clusteranalyse nicht verwendet.
Bei einer Clusteranalyse handelt es sich um ein Strukturen entdeckendes, gruppierendes Verfahren, bei dem die Bündelung von Objekten im Vordergrund steht (Backhaus/Erichson/Plinke/Weiber 2006). Mit dieser Methode wurden die Ergebnisse der beiden letzten Bundestagswahlen in den 401 (2017) bzw. 402 (2013) Landkreisen und kreisfreien Städten auf Ähnlichkeiten des Wahlverhaltens hin untersucht und verglichen.

Ziel der angewendeten Clusteranalyse ist es, Kreise mit ähnlichem Wahlverhalten zu Gruppen bzw. Typen (Clustern) zusammenzufassen, die in sich möglichst homogen sind und sich möglichst stark von den übrigen Gruppen unterscheiden. Dazu wurde das Ward-Verfahren verwendet, das in der Literatur als sehr zuverlässig gilt (Backhaus/Erichson/Plinke/Weiber 2006). Zu betonen ist, dass die resultierenden Cluster mit einer Informationsreduktion und einem Verlust an Detailschärfe einhergehen und dass es „Grenzfälle“ gibt. Einzelne Landkreise und kreisfreie Städte können bei bestimmten Parteien also durchaus recht deutlich vom hier dargestellten Clustermittelwert abweichen.

Eine Möglichkeit, die Clusterstruktur im Nachhinein auf Plausibilität und Verbesserungsmöglichkeiten zu prüfen, ist die Durchführung einer Diskriminanzanalyse. Dabei handelt es sich um ein Verfahren, mit dem überprüft werden kann, ob eine vorgegebene Typisierung die optimale Trennung der Variablen in Gruppen darstellt (Bahrenberg/Giese/Mevenkamp/Nipper 2008). Dieses Verfahren zur Überprüfung der Clusterstruktur wurde auch im vorliegenden Beitrag angewendet.

Zur Ermittlung der Clusterzahl wurde das so genannte Ellenbogenkriterium verwendet (Baum/Weingarten 2004). Dabei haben sich jeweils Lösungen mit sieben Clustern als ein sinnvoller Kompromiss zwischen notwendiger Informationsreduktion und wünschenswerter Detailschärfe erwiesen. Für die Bundestagswahl 2017 wurde ein zusätzliches achtes Cluster ausgewiesen, das aus vier ostsächsischen Kreisen besteht, die angesichts des weit überdurchschnittlichen Wahlergebnisses der AfD aus methodischen Gründen als Ausreißer für die Berechnung der Cluster ausgeschlossen wurden. Angesichts des sehr ähnlichen Wahlverhaltens werden die betreffenden Landkreise in Karte 1 als eigener Typ des Wahlverhaltens dargestellt.

Hochburg
Der Begriff Hochburg wird hier „im Sinne einer relativen Hochburg“ (Hilbig/Steingrube 1999, S. 52) verwendet und beschreibt einen Kreis, in dem der Stimmenanteil einer bestimmten Partei deutlich über dem Bundesergebnis liegt.