Wie sich die Bevölkerung entwickelt, hängt von drei Einflussgrößen ab: Wanderungen, Geburten und Sterbefälle. In europäischer Sicht zeigen sich große regionale Unterschiede. Im östlichen Europa überwiegt die Schrumpfung, verursacht durch Abwanderung, hohe Sterberaten und niedrige Geburtenraten. Nord- und Westeuropa zeichnen sich dagegen durch eine günstigere Kombination der drei Faktoren aus. Auch viele Großstädte wachsen durch Zuwanderung und Geburtenüberschüsse.

Faktoren der Bevölkerungsentwicklung
Die Bevölkerungsentwicklung einer Region wird durch zwei Faktoren beeinflusst: die natürliche Bevölkerungsentwicklung (die Differenz von Geburten und Sterbefällen) und den Wanderungssaldo (die Differenz von Zu- und Fortzügen). Beide Faktoren beeinflussen sich wechselseitig. So sind junge Erwachsene in ganz Europa die mobilste Bevölkerungsgruppe (Leibert 2012). Die bedeutendste Wanderungsbewegung der 18- bis 30-Jährigen ist die vom Land in die Stadt. Das gilt besonders für junge Frauen (Camarero/Sampedro 2016; Kühntopf/Stedtfeld 2012; Timár/Velkey 2016; Rauhut/Littke 2016). Dadurch werden die Städte tendenziell „jünger“ und „weiblicher“, während vor allem strukturschwache und schlecht erreichbare ländliche Räume „älter“ und „männlicher“ werden – mit weitreichenden demografischen und gesellschaftlichen Folgen (Dahlström 1996; Kaberis/Koutsouris 2013). Die Abwanderung junger Bevölkerungsgruppen beeinflusst indirekt die natürliche Bevölkerungsentwicklung, denn die abgewanderten potenziellen Mütter bekommen ihre Kinder in anderen Regionen.

Wachsende Regionen
Berücksichtigt man die übergeordnete Entwicklung der Einwohnerzahl, so ergeben sich sechs Typen der Bevölkerungsentwicklung (Karte 1 u. 2, Tab. 1).
Die sowohl kurz- als auch langfristig nachhaltigste Bevölkerungsentwicklung weisen Regionen mit Geburtenüberschüssen und Wanderungsgewinnen auf (Typ 1, in der Karte hellbraun dargestellt). Diese Räume zeichnen sich durch eine vorteilhafte Altersstruktur mit einem relativ hohen Anteil von Kindern und Jugendlichen aus. Dadurch ist (zumindest für eine Übergangszeit) ein natürliches Bevölkerungswachstum selbst dann möglich, wenn die Geburtenrate niedriger ist als in anderen Landesteilen. Bei Typ 1 funktioniert die Bevölkerungsentwicklung nach dem „Matthäus-Prinzip“ (wer hat, dem wird gegeben). Geburtenüberschüsse sind am ehesten in Regionen zu erwarten, die durch ihre Attraktivität für Zuwanderer ohnehin schon ein überdurchschnittliches Wachstumspotenzial aufweisen. Typ 1 ist in Nord- und Westeuropa recht weit verbreitet, also in Ländern mit vergleichsweise hohen Geburtenraten (Leibert 2015). Tendenziell zeichnet sich auch ein Stadt-Land-Unterschied ab (etwa in Deutschland), da durch die Zuwanderung junger Menschen die Geburtenzahlen positiv beeinflusst werden.

Die zu Typ 2 (hellrot) gehörenden Regionen sind attraktiv für Zuwanderer, weisen aber eine negative natürliche Bevölkerungsentwicklung auf. Da ein Bevölkerungswachstum nur durch Wanderungsgewinne aus anderen Landesteilen oder aus dem Ausland möglich wird, ist die Nachhaltigkeit dieses Typs als eher gering einzustufen. Die Abhängigkeit der Bevölkerungsentwicklung von Wanderungen ist insofern problematisch, als die räumliche Bevölkerungsentwicklung den dynamischsten Entwicklungsfaktor darstellt, der zudem im Zeitverlauf stark schwanken kann und schwer vorhersagbar ist. Vergleicht man die Zeiträume 2008 bis 2010 (Karte 2) und 2014 bis 2016 (Karte 1), wird dieser Sachverhalt in Deutschland und Italien besonders deutlich. Die Zuwanderung von Asylsuchenden und Geflüchteten nach Deutschland, die über den Königsteiner Schlüssel (Glossar) proportional auf die Bundesländer und von diesen nach eigenen Verteilungsschlüsseln auf die Landkreise und kreisfreien Städte verteilt werden (Katz/Noring/Garrelts 2016), war von 2014 bis 2016 zahlenmäßig groß genug, um in zahlreichen Kreisen eine Trendwende der Bevölkerungsentwicklung herbeizuführen. In Italien waren dagegen die Wanderungsgewinne im gleichen Zeitraum deutlich zurückgegangen, wodurch dort ebenfalls fast flächendeckende Sterbeüberschüsse nicht mehr ausgeglichen werden konnten.

Regionen mit Wanderungsverlusten und Geburtenüberschüssen
Typ 3 (lila) ist dadurch gekennzeichnet, dass Geburtenüberschüsse eine negative Wanderungsbilanz ausgleichen können. Typ 4 (hellblau) ähnelt Typ 3, mit dem Unterschied, dass die Zahl der Geburten zu gering ist, um die Wanderungsverluste auszugleichen – die Folge ist Schrumpfung. Zu beiden Typen gehören Regionen mit in der jüngeren Vergangenheit hohen Geburtenraten (z.B. in Polen und der Türkei) oder einem hohen Bevölkerungsanteil von Minderheiten mit stabil hoher Fertilität (z.B. Roma im Osten der Slowakei). Die Nachhaltigkeit der Bevölkerungsentwicklung ist gering. Wenn junge Menschen unter den Abwandernden überrepräsentiert sind, ist absehbar, dass sich das regionale Fortpflanzungspotenzial verschlechtert (weniger Geburten) und sich der Alterungsprozess (mehr Todesfälle) beschleunigt. Angesichts der offensichtlich geringen Attraktivität dieser Regionen für in- und ausländische Zuwanderer ist eine Trendwende eher unwahrscheinlich. Die geringe Nachhaltigkeit der Typen 3 und 4 wird beim Vergleich der beiden Karten insbesondere in Polen deutlich, wo die „Echoeffekte“ der hohen Geburtenraten der 1970er- und 1980er-Jahre langsam ausklingen.

Schrumpfende Regionen
Typ 5 (hellblau) umfasst Regionen, die zwar Wanderungsgewinne verbuchen können, jedoch nicht in der Höhe, die notwendig wäre, um das Geburtendefizit auszugleichen. Dies ist in den meisten Regionen die Konsequenz einer ungünstigen Altersstruktur der Bevölkerung mit einem hohen Seniorenanteil.

Typ 6 (blauviolett) stellt schließlich die ungünstigste Kombination der Faktoren der Bevölkerungsentwicklung dar. Die zu diesem Typ gehörenden Regionen schrumpfen durch Sterbeüberschüsse und Wanderungsverluste. Die Gefahr ist sehr groß, dass dadurch ein Teufelskreis der Schrumpfung und Alterung entsteht, der nur sehr schwer zu durchbrechen ist. Dies wird dadurch weiter verstärkt, dass Abwanderung als eine „Abstimmung mit den Füßen“ (Bernt/Liebmann 2013) über die Zukunftsfähigkeit einer Region interpretiert werden kann. Abwanderungsregionen haben folglich häufig auch schwerwiegende wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturschwächen, die eine Trendwende erschweren. Sonderentwicklungen, etwa die oben angesprochenen Folgen der „Flüchtlingskrise“ in Deutschland, können dagegen die längerfristige Bevölkerungsentwicklung nachhaltig positiv beeinflussen. Bei den zu Typ 6 gehörenden Regionen handelt es sich vorrangig um dünn besiedelte, strukturschwache ländliche Räume, die – von Rückwanderern, die aus persönlichen oder familiären Gründen zuziehen, abgesehen – nur für einen beschränkten Personenkreis als Wanderungsziel attraktiv sind, während auf der anderen Seite gerade junge Menschen gezwungen sind, zur Ausbildung oder aus beruflichen Gründen abzuwandern. Typ 6 dominiert im östlichen Europa, seit der globalen Finanzkrise 2008 aber auch in den von einer hohen Jugendarbeitslosigkeit betroffenen ländlichen Räumen Südeuropas.

Ausblick
Was heißt das für die Zukunft? In den alternden Gesellschaften Europas werden Wanderungen, insbesondere internationale Wanderungen, zunehmend zur zentralen Stellschraube der Bevölkerungsentwicklung. Ohne Zuwanderung aus dem Ausland ist in vielen Regionen keine nachhaltige Bevölkerungsentwicklung möglich. Wer eine Abschottung Europas fordert, darf diese andere Seite der Medaille nicht verschweigen. Dies gilt insbesondere für Ostdeutschland und die postsozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas. Die Kombination aus Sterbeüberschüssen und Abwanderung in andere EU-Staaten lässt die demografischen Zukunftsaussichten vieler ländlicher Räume dort besonders düster erscheinen. Spätestens wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 1970er- und 1980er-Jahre die Familiengründungsphase abgeschlossen haben, ist mit einer deutlichen Verstärkung der Schrumpfung zu rechnen.

Bernt, Matthias u. Heike Liebmann (2013): Zwischenbilanz: Ergebnisse und Schlussfolgerungen des Forschungsprojekts. In: Bernt, M. u. H. Liebmann (Hrsg.): Peripherisierung, Stigmatisierung, Abhängigkeit? Deutsche Mittelstädte und ihr Umgang mit Peripherisierungsprozessen. S. 218-231. Wiesbaden.

Camarero, Luis u. Rosario Sampedro (2016): Exploring Female Over-Migration in Rural Spain — Employment, Care Giving and Mobility. In: Wiest, K. (Hrsg.): Women and Migration in Rural Europe. Labour Markets, Representations and Policies, S. 189-208. Palgrave.

Dahlström, Margareta (1996). Young Women in a Male Periphery – Experiences from the Scandinavian North. J Rural Stud 12, S. 259-271.

Eurostat (2018): Demographische Veränderung – absoluter und relativer Bevölkerungsstand auf regionaler Ebene (demo_r_gind3). URL: http://appsso.eurostat.ec.europa.eu/nui/show.do?dataset=demo_r_gind3&lang=de
Abrufdatum: 29.10.2018.

Kaberis, Nikos u. Alex Koutsouris (2013): Under Pressure: Young Farmers in Marriage Markets – A Greek Case Study. Sociol Ruralis 53, Heft 1, S. 74-94.

Katz, Bruce; Noring, Luise u. Nantke Garrelts (2016): Cities and Refugees—The German Experience.

Kühntopf, Stephan u. Susanne Stedtfeld (2012): Wenige junge Frauen im ländlichen Raum: Ursachen und Folgen der selektiven Abwanderung in Ostdeutschland. BIB Working Paper 3/2012. (Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung) .Wiesbaden.

Leibert, Tim (2015): Geburtenhäufigkeit und Familienpolitik in Europa. In: Geographische Rundschau 67(4), S. 17-25.

Leibert, Tim (2012): SEMIGRA Final Report, Annex 1: Selective migration and unbalanced sex structures in Europe, ESPON and IfL, Luxembourg, Leipzig.

Rauhut, Daniel u. Helene Littke (2016): ‘A one way ticket to the city, please!’ on young women leaving the Swedish peripheral region Västernorrland. In: Journal of Rural Studies 43, S. 301-310.

Timár, Judit u. Gábor Velkey (2016): The relevance of the political economic approach: The interpretations of the rural in the migration decision of young women and men in an economically backward region. In: Journal of Rural Studies 43, S. 311-322.

Zitierweise
Leibert, Tim (2018): Bevölkerungsentwicklung in Europa: zwischen Schrumpfen und Wachsen. In: Nationalatlas aktuell 12 (11.2018) 5 [14.11.2018]. Leipzig: Leibniz-Institut für Länderkunde (IfL). URL: http://aktuell.nationalatlas.de/Bevoelkerungsentwicklung.5_11-2018.0.html

Dr. Tim Leibert
Leibniz-Institut für Länderkunde
Schongauerstraße 9
04328 Leipzig
Tel.: (0341) 600 55-188
E-Mail: T_Leibert@leibniz-ifl.de

Königsteiner Schlüssel
Zur Lastenverteilung unter den Ländern bei der Verteilung der Asylsuchenden und Flüchtlingen wird der Königsteiner Schlüssel angewandt. Ihm liegen das Steueraufkommen der Länder zu zwei Drittel und die entsprechende Bevölkerungszahl zu ein Drittel zugrunde.