Reisende Straßenbahnen
Öffentliche Infrastruktur gilt als beständiges, robustes und mitunter ikonisches Element des städtischen Raums, das alltägliches Leben ermöglicht und determiniert. Dabei wird zuweilen außer Acht gelassen, dass städtische Infrastrukturen oft eine komplexe Vor- und Nachgeschichte jenseits ihres Nutzungszyklus in einer Stadt aufweisen. Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die zum Teil Jahrzehnte andauernde Weiternutzung gebrauchter deutscher Straßenbahnfahrzeuge (Glossar) an anderen Orten der Welt. Der Start in ein zweites Leben auf neuen Gleisen ist allerdings oft mit erheblichem Aufwand verbunden: Fahrzeuge, Gleise und Fahrleitungen müssen umgebaut, Betriebshöfe und Werkstätten angepasst, Arbeitskräfte fortgebildet werden. So erzeugt die internationale Mobilität von Straßenbahnfahrzeugen komplexe, lokal verortete Reparaturkulturen, die einen transnationalen Second-Hand-Markt überhaupt erst ermöglichen.
Die faszinierende Vielschichtigkeit dieses Phänomens war die Motivation, die Reiseziele und die Weiternutzung gebrauchter Straßenbahnfahrzeuge aus deutschen Betrieben näher zu untersuchen. Ein Ergebnis dieser Untersuchungen sind Karten, die die mannigfaltigen Reiserouten einzelner Fahrzeuge zeigen. Karte 1 vermittelt einen Überblick und zeigt zugleich ausgeprägte Exportströme.
Modernisierungsschub in der EU – zunehmender Export gebrauchter Fahrzeuge
Wie die jüngste Straßenbahn-Renaissance in Westeuropa verdeutlicht (Petkov 2020), erscheint ein substanzieller Ausbau des ÖPNV zunehmend als Rettung modernen städtischen Lebens (Jensen/Richardson 2004). So wird Straßenbahninfrastruktur nicht länger nur als städtische Dienstleistung angesehen, sondern gilt als materieller Ausdruck eines sozial inklusiven und umweltfreundlichen Lebensstils einer bürgerlich-urbanen Mittelschicht – und wird entsprechend beworben und gefördert (Oleson 2020).
In diesem Narrativ der nachhaltigen Verkehrsentwicklung wird jedoch übersehen, dass Neuanschaffungen aufgrund sich ändernder Anforderungen an Barrierefreiheit oder infolge von öffentlich geförderten Netzausbauten solide, funktionierende Fahrzeuge ersetzen, die anschließend verschrottet oder verkauft werden müssen. Anders gesagt: Straßenbahnen emigrieren, um sich den Zugänglichkeitsanforderungen und Technologiestandards, die sie nicht mehr erfüllen können, räumlich zu entziehen.
Regionale und historische Schwankungen
Gebrauchte deutsche Straßenbahnfahrzeuge kommen an sehr unterschiedlichen Zielorten zum Einsatz – sie werden von Berlin nach Pjöngjang in Nordkorea, von Schwerin nach Wladikawkas in Russland, von Ulm nach Arad in Rumänien geliefert. Die vorliegende Studie betrachtet die 49 Städte in Deutschland, die einen aktiven Straßenbahnbetrieb haben und ihre Fahrzeuge in der Vergangenheit verkauft haben (Glossar). Aus Karte 1 werden starke Exportströme Richtung Osten sichtbar. Die tendenzielle Ost-Bewegung gebrauchter Straßenbahnfahrzeuge ist auch in der Karte 2 bei innerdeutschen Abgaben zu beobachten. Karte 3 zeigt große Unterschiede zwischen den Städten hinsichtlich der Zahl der abgegebenen Fahrzeuge. So haben beispielsweise Berlin mit mehr als 500 und Dresden beinahe 300 Fahrzeuge seit 1990 abgegeben, während es in Gotha oder Halberstadt weniger als zehn waren. Auch die Ziele der jeweiligen Fahrzeuge unterscheiden sich deutlich voneinander: In der interaktiven Karte 3 können mit Hilfe des Tooltips für jeden abgebenden Verkehrsbetrieb detaillierte Informationen zu den Zielorten und der Anzahl der Fahrzeuge mit den jeweiligen Jahresangaben angezeigt werden. Die umfangreiche Datenanalyse (Glossar) offenbart drei zeitlich und räumlich unterschiedliche Phasen: eine erste in den frühen 1990er Jahren, als westdeutsche Städte ihre Fahrzeuge nach der Wiedervereinigung an ostdeutsche Städte abgaben; eine zweite um die Jahrtausendwende, als ostdeutsche Straßenbahnen an damalige EU-Beitrittskandidaten wie Rumänien oder Polen verkauft wurden, und schließlich vor kurzem der Verkauf an assoziierte europäische Nachbarstaaten wie die Ukraine oder an Ägypten (Grafik 1).
Neokolonialismus oder Nachhaltigkeit?
Durch die Übernahme gebrauchter Straßenbahnfahrzeuge erneuern die Nehmerstädte nicht nur die vorhandenen Fahrzeuge zu günstigen Preisen, sondern investieren auch in die Resilienz des öffentlichen Nahverkehrs. Die Abwanderung von Fahrzeugen kann jedoch einen neokolonialen Beigeschmack haben, wenn der Westen davon profitiert, dass alte Fahrzeuge in den Osten abgegeben werden auch um teure Verschrottungskosten unter hohen Qualitätsstandards zu umgehen. Zudem drängt sich die Frage auf: Warum sind veraltete, nicht-barrierefreie Bahnen gut genug für osteuropäische, aber nicht für deutsche Städte? In den Diskussionen von Verkehrsaktivisten gibt es nur wenige, die die schrittweisen Verbesserungen befürworten. Die Mehrheit fühlt sich von den westlichen „Spenden“ ausgenutzt oder sogar gedemütigt. So wird in Foren oft behauptet, dass westliche Betreiber froh sind, die Verantwortung für eine nachhaltige Verschrottung ihrer Fahrzeuge loszuwerden. Und in der Tat gibt es Beispiele von Straßenbahnen, die als Wracks auf einem Nebengleis enden.
Andererseits scheint der Export langlebiger Fahrzeuge, die gut und gerne für 40 bis 50 Jahre betrieben werden können, im Sinne einer nachhaltigen Nutzung von öffentlicher Verkehrsinfrastruktur zu sein. Es ist beeindruckend zu verfolgen, welches Wissen um eine gelebte Instandhaltungskultur kursiert, die tatsächlich einen plausiblen Sinn für Nachhaltigkeit beweist. Vor diesem Hintergrund bieten die Karten einen Ausgangspunkt, um Praktiken von Reparatur und Wissensaustausch als politische Handlungen gegen immer kurzlebigere Warenkreisläufe im Namen eines neoliberalen Klima-Urbanismus zu überdenken.