„Deutschlands Mitte“ ist bei Politikern, zumindest im Wahlkampf, eine umworbene Bevölkerungsmasse und bei Kommunen ein zu touristischen Zwecken gern genutzter Punkt. In der Statistik und Mathematik ist die Mitte ein exakt berechen- oder konstruierbarer Punkt. Daraus lässt sich die Frage ableiten, ob mit Hilfe der Mathematik Deutschlands Mitte exakt definiert werden kann.
Methoden
Zur Ermittlung der geographischen Mitte werden landläufig verschiedene Methoden benutzt: Die Nord-Süd/West-Ost-Methode, bei der der nördlichste mit dem südlichsten und der westlichste mit dem östlichsten Punkt verbunden wird. Der Schnittpunkt der beiden Geraden ist die Mitte, zumindest in der Geometrie gilt dies für die Raute. Beim minimal umgebenden Rechteck, auch Bounding-Box genannt, ist der Schnittpunkt der Diagonalen der Mittelpunkt, dies entspricht in der Geometrie dem Rechteck. Neben diesen durch Schnittpunkte von Geraden konstruierten Punkten, die sich auch mathematisch berechnen lassen, wird der Schwerpunkt eines unregelmäßigen N-Ecks, wie beispielsweise einer Staatsfläche, mittels Formeln berechnet.
Weitere konstruierte Punkte ergeben sich mit der Schwerelinien-Methode und dem Ausbalancieren, deren Ergebnis ziemlich genau ist und dem geometrischen Schwerpunkt entspricht. Bei der Schwerelinien-Methode wird ein Körper, in diesem Fall eine ausgeschnittene Karte, an einem beliebigen Punkt aufgehängt, das Lot gefällt und es ergibt sich eine Schwerelinie. Dieses, an einem anderen Punkt wiederholt, erzeugt eine weitere Schwerelinie, deren Schnittpunkt mit der ersten Schwerelinie den Schwerpunkt ergibt. Bei einer weiteren Methode wird versucht, die ausgeschnittene Karte auf einer Spitze auszubalancieren.
Der Bevölkerungsschwerpunkt wird als gewichtetes arithmetisches Mittel berechnet, wobei die Schwerpunkte der Gebietseinheiten mit den jeweiligen Einwohnerzahlen gewichtet werden.
Bezugsräume
Um eine Mitte zu bestimmen, muss eine Fläche gegeben sein. Für die Mitte eines Staates ist sicherlich das Staatsgebiet die richtige Wahl. Das Staatsgebiet von Deutschland birgt allerdings einige Tücken, die es zu beachten gilt. Zum einen liegt in Deutschland mit der österreichischen Gemeinde Jungholz eine sogenannte funktionale Enklave, die nur durch einen gemeinsamen Grenzpunkt, also dimensionslos, an Österreich angedockt ist. Zum anderen besitzt Deutschland eine Reihe von Exklaven: Büsingen in der Schweiz, fünf Gebiete in Belgien, die durch die Vennbahntrasse abgetrennt werden, und die Tiefwasserreede im offenen Meer der Nordsee. Alle diese Flächen müssen Berücksichtigung finden.
Nicht festgelegt ist der Grenzverlauf im Bodensee. Außerdem ist die Abgrenzung des Staatsgebietes im Meer an einigen Stellen strittig, was beispielsweise im Ems-Dollart-Bereich in einer vertraglich geklärten deutschen und niederländischen Auffassung mündet. Ungeklärt ist der Verlauf von diesem Gebiet bis zum Beginn der Ausschließlichen Wirtschaftszone, die nicht zum Staatsgebiet gehört. Letztendlich bedeutet dies, dass das Staatsgebiet, rechtlich gesehen, nicht vollständig definiert werden kann.
Einfacher sind da die Bezugsräume Landfläche einschließlich Inseln auf der einen und das Festland auf der anderen Seite, obwohl es auch hier durch Landabbrüche, Sandanspülungen oder Flussbettverlagerungen im Grenzverlauf zu kleinen Veränderungen kommen kann.
Weiteres Ungenauigkeitspotential ergibt sich durch die Kartographie. Denn für die Ermittlung des Mittelpunktes wird in der Regel eine zweidimensionale Karte bzw. deren digitales Model benutzt. Die Karte ist aber nur eine Projektion der realen Fläche. Durch die Art der Projektion und die Generalisierung für den entsprechenden Maßstab entstehen diese Ungenauigkeiten.
Methode + Bezugsraum = Mitte?
Aus den beschriebenen Gründen ist es im Grunde nicht möglich, den Schwerpunkt für das Staatsgebiet zu ermitteln. Wenn man den Verlauf der Staatsgrenze aus dem Datensatz VG 250 des Bundesamtes für Kartographie und Geodäsie zugrunde legt, dann liegt der Schwerpunkt, also die Mitte von Deutschland, im Ortsteil Bickenriede der Gemeinde Anrode in Thüringen (Karte 1). Nur von der begehbaren Fläche ausgehend, ergibt sich für die Landfläche Bischofroda als Mittelpunkt und für das Festland Eisenach.
Unzureichend ist die Nord-Süd/West-Ost-Methode, da die Form Deutschlands nicht einer Raute entspricht. Das minimal umgebende Rechteck liefert zwar für Deutschland mit der Gemeinde Oberdorla ein relativ gutes Ergebnis, würde aber beispielsweise für das sichelförmige Territorium Kroatiens einen Punkt außerhalb des Staatsgebietes liefern. Auch die Methoden mit der ausgeschnittenen Karte sind nicht wirklich zielführend, da hier zumindest die Exklaven vernachlässigt werden müssen.
Ebenso ist der Bevölkerungsschwerpunkt nur von theoretischer Natur, weil er über den Wohnsitz zu einem bestimmten Zeitpunkt berechnet wird. Je nach Bezugsbasis – Länder, Kreise oder Gemeinden – nähert man sich einem Punkt in der Gemeinde Bad Hersfeld. Ebendort, nur 2,7 Kilometer nördlich, lag der Punkt vor zehn Jahren (Karte 2). Diese Verschiebung nach Süden lässt sich mit einer Bevölkerungszunahme in Bayern und Baden-Württemberg bei gleichzeitigen Verlusten im Westen und Osten der Republik erklären. Vielleicht ist dieses Wanderungsverhalten ja daran schuld, dass manche Politiker nach Wahlniederlagen lamentieren: „Wir haben die Mitte nicht erreicht.“ Die tatsächliche geographische Mitte von Deutschland erreichen zu wollen, ist dagegen aus oben beschriebenen Gründen von vornherein ein aussichtsloses Unterfangen.