Bereits kurz nach dem ersten Shutdown in Deutschland im Frühjahr 2020 setzte eine Diskussion darüber ein, inwieweit die Pandemie das Bevölkerungswachstum der Städte verlangsamt und inwieweit das Stadtumland davon profitiert und mehr denn je eine Alternative zur Stadt bildet (Schneider 2020; Langen 2020).
Fest steht: Das Städtewachstum hat sich im Jahr 2020 rapide verlangsamt, weniger als die Hälfte aller Metropolen, Großstädte und übrigen kreisfreien Städte erfuhr noch Wanderungsgewinne (Glossar, Grafik 1). Zu den größten Wanderungsverlierern zählten die Großstädte Würzburg, Mainz, Osnabrück, Darmstadt, Heidelberg, Stuttgart, Karlsruhe und Regensburg sowie die Mittelstädte Bamberg, Wilhelmshaven, Hof, und Frankfurt (Oder) (Karte 1). Dies ist im Wesentlichen durch den starken Einbruch der internationalen Zuwanderung bedingt, von der das Wachstum insbesondere der Großstädte seit mehreren Jahren stark dominiert wird (Wolff/Haase/Leibert 2020). Darüber hinaus ist auch der Einbruch der Zuwanderung von Auszubildenden, Studierenden und Berufseinsteigerinnen und -einsteigern ein wesentlicher Faktor für das gebremste Städtewachstum (Wolff/Leibert/Haase/Rink 2021).
Dagegen zählen sowohl die Großstädte Leipzig, Potsdam, Mühlheim an der Ruhr und Herne als auch die kreisfreien Mittelstädte Kaufbeuren, Speyer, Baden-Baden, Pirmasens, Brandenburg an der Havel und Schwerin zu den klaren Wanderungsgewinnern. Zudem erzielten über 94 Prozent aller Stadtumlandkreise Wanderungsgewinne (Glossar, Grafik 1), wie etwa im dünn besiedelten ländlichen Umland von Rostock, Kiel oder Lübeck, aber auch in den Landkreisen mit Verdichtungsansätzen des Berliner Umlandes (Karte 1).
Veränderte Wanderungsmuster
2020 vollzog sich bei den Wanderungen der Städte eine deutliche Trendumkehr: Während in den 2010er-Jahren noch über 80 Prozent aller kreisfreien Städte Wanderungsgewinne verzeichneten, waren 2020 viele von Wanderungsverlusten betroffen (Grafik 1). Im Vergleich der Jahre 2019 und 2020 wiesen 84 der 107 kreisfreien Städte (79 Prozent) entweder abgeschwächte Wanderungsgewinne, verstärkte Wanderungsverluste oder sogar neue Wanderungsverluste auf (Karte 2).
In etwa einem Drittel der Städte hatten sich die Wanderungsgewinne abgeschwächt – dies gilt insbesondere für Neumünster, Flensburg und Amberg. Für sechs Prozent der Städte hatten sich die bereits 2019 bestehenden Wanderungsverluste nochmals verstärkt, insbesondere in Stuttgart, Karlsruhe und Bamberg. In 46 kreisfreien Städten (43 Prozent) kehrten sich Wanderungsgewinne von 2019 in -verluste in 2020 um, was sich am deutlichsten in den Universitätsstädten Heidelberg, Trier und Passau sowie in Landshut zeigte. Dagegen registrierten nur fünf Prozent aller Städte statt Wanderungsverlusten 2019 Wanderungsgewinne in 2020. Dazu zählten Schweinfurt, Emden und Dessau-Roßlau. Nur in Salzgitter, Wiesbaden und Gera haben sich bestehende Wanderungsverluste abgeschwächt (drei Prozent). In 13 Prozent aller Städte verstärkten sich die Wanderungsgewinne zwischen 2019 und 2020, unter anderem in Mülheim an der Ruhr, Herne und Pirmasens.
Für die Mehrzahl der 160 Stadtumlandkreise waren dagegen verstärkte Wanderungsgewinne im Vergleich von 2019 und 2020 charakteristisch (Karte 2). So verstärkten sich die Wanderungsgewinne in 58 Prozent aller Umlandkreise, allen voran im Umland von Berlin sowie im Umland der Küstenstädte von Emden bis nach Rostock. Jedoch schwächten sich die Wanderungsgewinne 2020 in 35 Prozent aller Umlandkreise im Vergleich zum Vorjahr ab. Dies wird besonders in Oberbayern, zwischen Hannover und Neumünster und entlang einer Achse von Fulda nach Aachen deutlich. Für fünf Prozent der Umlandkreise haben sich die Wanderungsgewinne in -verluste umgekehrt (z. B. Landkreise München, Esslingen und Goslar).
Der Trend hin zu positiven Wanderungsbilanzen im Stadtumland ist nicht neu, wie Grafik 1 zeigt. Während 2008 noch die Mehrzahl der Umlandkreise Wanderungsverluste zeigte, stieg der Anteil bis 2017 kontinuierlich und verharrt seitdem bei über 94 Prozent. So verzeichneten 2019 bereits 154 von 160 Stadtumlandkreisen Wanderungsgewinne.
Schlüsselt man die Wanderungsbilanz nach Zu- und Fortzügen auf, wird deutlich, dass die Wanderungsdynamik in 2020 insgesamt stark nachgelassen hat: Die Zahl sowohl der Zuzüge als auch der Fortzüge war im Vergleich zu den Vorjahren stark gesunken. Die Zuzüge sind zwischen 2019 und 2020 in den Städten im Schnitt um 15 Prozent gesunken, im Stadtumland sogar um 25 Prozent. Die Zahl der Fortzüge sank in den Städten um neun Prozent, im Umland um 23 Prozent. Die negative Wanderungsbilanz der Städte kam somit in erster Linie durch die ausgebliebenen Zuzüge zustande; die leicht positive Wanderungsbilanz des Stadtumlandes resultierte dagegen vor allem aus den ausgefallenen Fortzügen.
Stadt-Umland-Kontraste
Im Schnitt stiegen die Wanderungssalden der Umlandkreise seit den 2010er Jahren stetig und übertrafen 2019 die der kreisfreien Mittel- und Großstädte; bei den Metropolen war dies bereits 2018 der Fall (Grafik 2). Inwieweit das Umland von einem abgeschwächten Städtewachstum profitiert, ist regional sehr unterschiedlich ausgeprägt. Karte 2 zeigt, dass 49 der 107 kreisfreien Städte zwischen 2019 und 2020 einen Rückgang des Wanderungssaldos verbuchten, während im dazugehörigen Umland ein Anstieg des Saldos festgestellt werden konnte. Dies betraf Berlin, Dresden, Erfurt, Braunschweig, Koblenz und Nürnberg. Dieses Phänomen könnte auf eine verstärkte Suburbanisierung im Sinne einer von der Stadt in das Umland gerichteten Wanderungsbewegung hindeuten.
Städte, in denen sowohl die Wanderungsdynamik der Kernstadt als auch die ihres Umlandes zunahm, befinden sich beispielsweise in den Küstenregionen und in Sachsen-Anhalt. Städte mit einer positiven Wanderungsbilanz und einer geringeren Dynamik des jeweiligen Umlandes sind dagegen die Ausnahme (z. B. Speyer und Münster). Dagegen verbuchten 35 Städte, insbesondere in West- und Süddeutschland, abgeschwächte Wanderungssalden ebenso wie ihr jeweiliges Umland.
Bei den zehn Städten mit den stärksten Wanderungsverlusten 2020 (Grafik 3) zeigt sich, dass – mit Ausnahme von Karlsruhe und Würzburg – in den zugehörigen Umlandkreisen die Wanderungsdynamik ebenso sank bzw. sich in ein Defizit umkehrte. Daneben haben sich lediglich die Wanderungsgewinne der betreffenden Umlandkreise von Bottrop, Remscheid, Herne und Potsdam verstärkt.
Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der neuen Wanderungsverluste vieler Städte hat die COVID-19 Pandemie 2020 neue Stadt-Umland-Kontraste etabliert, wie etwa bei kreisfreien Städten, oder viele bestehende Kontraste nochmals verstärkt, wie etwa bei kreisfreien Großstädten und Metropolen (Grafik 2). 40 Prozent aller Städte (61 Prozent in 2019) zeigten Wanderungsgewinne bei gleichzeitig noch stärkeren Wanderungsgewinnen der betreffenden Umlandkreise: Kiel und Potsdam erreichen einen Wert von -15, Hamburg, Lübeck und Kiel sogar Werte zwischen -36 bis -41 (Karte 3).
Ein Wert von -10 bedeutet statistisch, dass für jede Person, die in eine Stadt zieht, gleichzeitig zehn Personen in das dazugehörige Umland ziehen. Darüber hinaus zeigen sich besonders ausgeprägte Stadt-Umland-Kontraste auch für Städte, die nach Wanderungsgewinnen 2019 im darauffolgenden Jahr Wanderungsdefizite aufwiesen, während das Umland Wanderungsgewinne erzielte: Frankfurt a. M., Frankfurt (Oder) (jeweils -30), Braunschweig (-24), Neumünster, Koblenz oder Heidelberg (jeweils -21) verzeichneten dabei die höchsten Kontrastwerte. Zu diesem Stadttyp, dessen Anteil von 14 Prozent in 2019 auf 52 Prozent in 2020 stieg, gehört auch Berlin, was mit einem Wert von -110 den größten Stadt-Umland-Kontrast 2020 aufwies. Statistisch gesehen bedeutet dies, dass mit jeder Person, die aus Berlin wegzog, gleichzeitig 110 Personen in das Berliner Umland zogen (Karte 3).
Fazit
Das Corona-Jahr 2020 bescherte den kreisfreien Städten in Deutschland eine verminderte Wanderungsdynamik, die in dieser Größenordnung im letzten Jahrzehnt nicht zu beobachten war. Insbesondere durch den starken Einbruch beim Zuzug wiesen 80 Prozent der Städte entweder abgeschwächte Wanderungsgewinne, verstärkte Wanderungsverluste oder sogar neue Wanderungsverluste auf. Dagegen verzeichneten kleinere kreisfreie Städte Wanderungszuwächse. Ebenso konnte das Umland der Städte mehrheitlich seine Wanderungsbilanzen verbessern. Dies betraf überwiegend Norddeutschland, während Umlandkreise insbesondere in Süd- und Westdeutschland sinkende Wanderungsdynamiken aufwiesen.
Weniger als die Hälfte aller kreisfreien Städte verzeichnete im Vergleich zum Vorjahr eine geringere Wanderungsdynamik bei einer gleichzeitig höheren Dynamik des jeweiligen Umlandes. Dieser Trend setzte bereits Mitte der 2010er-Jahre ein. Die Umlandkreise verzeichnen seit 2019 positivere Wanderungsbilanzen als die jeweiligen (Kern)Städte. Im Jahr 2020 verstärkte sich dieser Trend und war mit einer stark nachlassenden Wanderungsdynamik der Städte verbunden. Die Ursachen liegen in der Corona-Pandemie: ausgebliebene Zuwanderungen und die verstärkte Nutzung von Homeoffice. Es ist anzunehmen, dass die Städte nach der Bewältigung der Pandemie wieder an Wanderungsdynamik gewinnen werden. Welche Städte davon wie stark profitieren, lässt sich derzeit noch nicht abschätzen. In Anbetracht der langfristigen Trends ist jedoch nicht damit zu rechnen, dass sich die derzeitigen Entwicklungen in den Stadt-Umland-Regionen wieder komplett umkehren werden. Somit wird das Umland auch zukünftig in vielen Regionen eine stärkere Rolle beim Wanderungsgeschehen spielen.