Funktionsspezialisierungen und Images
Städte sind durch eine Vielzahl von Funktionen gekennzeichnet. Neben der Versorgung der lokalen Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen (zentralörtliche Funktion) haben viele Städte im Verlauf ihrer Geschichte besondere Spezialisierungen herausgebildet. Zu nennen sind hier z.B. Hafenstädte, Garnisonsstädte, Messestädte, Universitätsstädte oder Industriestädte. Die wirtschaftlichen Spezialisierungen haben oft Spuren in den Städten hinterlassen, die sichtbar bleiben, auch wenn die ihnen zugrunde liegenden Aktivitäten bereits verschwunden sind. Solche persistenten städtebaulichen Raumstrukturen existieren beispielsweise in Form ehemaliger Industriegebäude und Kasernenkomplexe, die inzwischen anders genutzt werden oder noch brach liegen (z.B. Zechengelände). Aufgrund des rasanten wirtschaftlichen Wandels der letzten Jahrzehnte besteht häufig eine Diskrepanz zwischen dem historisch überlieferten Image einer Stadt und ihrem aktuellen ökonomischen Schwerpunkt.
Wirtschaftsstruktur deutscher Großstädte
Der Beitrag klassifiziert deutsche Großstädte mit mehr als 100.000 Einwohnern anhand ihres aktuellen Wirtschaftsprofils bzw. ihrer Wirtschaftsleistung. Als Indikator dient die Bruttowertschöpfung, die in sechs große Sektoren bzw. Wirtschaftsbereiche untergliedert wird (Glossar). Von den insgesamt 80 deutschen Großstädten wurden 71 in die Analyse einbezogen; neun konnten aufgrund fehlender Datenverfügbarkeit nicht berücksichtigt werden.
In Grafik 1 ist der relative Anteil der Wirtschaftsbereiche an der gesamten städtischen Wertschöpfung dargestellt. Den höchsten Wert erzielen die unternehmensorientierten Dienstleistungen (Finanzierung, Vermietung und Unternehmensdienstleister) mit 30,3 Prozent vor den öffentlichen Dienstleistungen (öffentliche und private Dienstleister) mit 27,4 Prozent und dem produzierenden Gewerbe (ohne Baugewerbe) mit 23,0 Prozent. In den ostdeutschen Großstädten stellen jedoch die öffentlichen Dienstleistungen den mit Abstand wichtigsten Wirtschaftsbereich dar (35,8 Prozent). Der Wirtschaftsbereich des produzierenden Gewerbes ist dagegen deutlich schwächer ausgeprägt als in den Städten der alten Länder.
Zwischen 1996 und 2009 gab es in den ostdeutschen Städten ganz erhebliche Veränderungen bei den sektoralen Wertschöpfungsanteilen: Besonders markant ist der Rückgang des Bausektors um 6,7 Prozentpunkte von 10,9 Prozent auf nur noch 4,2 Prozent (Grafik 1). Diese Zahlen spiegeln das Ende des von öffentlichen Investitionen und Steuervergünstigungen getragen Baubooms der Nachwendezeit wider. Deutlich zulegen konnte dagegen in dieser Phase der Bereich der unternehmensorientierten Dienstleistungen von 23,5 Prozent auf 30,2 Prozent. In den Städten der alten Länder ging dagegen der Anteil des produzierenden Gewerbes zugunsten der unternehmensorientierten und öffentlichen Dienstleistungen zurück.
Das differenzierte Deutschlandbild
Karte 1 zeigt die Großstadttypen nach ihrem stärksten Wertschöpfungsbereich. In 32 der 71 untersuchten Städte sind die unternehmensorientierten Dienstleistungen der wichtigste Sektor. Vor allem große Städte gehören zu dieser Kategorie: Bis auf Dresden und Bochum zählen alle Städte mit mehr als 500.000 Einwohnern dazu. Die Spitzenposition bei den unternehmensorientierten Dienstleistungen hat erwartungsgemäß die Bankenmetropole Frankfurt a.M. mit mehr als 50 Prozent der Wertschöpfung dieses Wirtschaftsbereichs inne, gefolgt von Düsseldorf mit 45 Prozent.
Der zweithäufigste Städtetyp sind Großstädte mit einem besonders ausgeprägten Anteil der Bruttowertschöpfung im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen. Unter diesen 23 Städten befinden sich in Westdeutschland häufig Städte mit großen Universitäten (z. B. Würzburg, Heidelberg, Trier, Bonn, Freiburg, Mainz oder Aachen). In Ostdeutschland zählen sogar bis auf Chemnitz, Leipzig und Berlin acht der insgesamt elf Großstädte zu dieser Kategorie (Karte 1).
Zu den 14 „Industriestädten“ (Dominanz des produzierenden Gewerbes), die ausschließlich in Westdeutschland liegen, zählen vor allem kleinere Großstädte mit weniger als 200.000 Einwohnern, so z.B. Wolfsburg, Ludwigshafen, Ingolstadt, Salzgitter und Leverkusen. Wolfsburg (Stammsitz der Volkswagen AG) weist zudem mit 64,6 Prozent der Bruttowertschöpfung im produzierenden Gewerbe die höchste sektorale Konzentration in Deutschland auf.
In den neuen Ländern gibt es aufgrund des gravierenden Strukturwandels seit der Wende keine Großstädte mehr, die man nach der angewandten Methode als „Industriestadt“ bezeichnen kann. Dass die gegenwärtige Typisierung nur eine Momentaufnahme ist, wird bei der retrospektiven Betrachtung dieses Wirtschaftsbereiches zwischen 1996 und 2009 deutlich (Karte 2): Es zeigt sich, dass von insgesamt elf Städten mit einer positiven Entwicklung fünf in Ostdeutschland liegen. Jena wies 2009 mit 25,4 Prozent der Bruttowertschöpfung den höchsten Wert für das produzierende Gewerbe auf, während Dresden mit 7,8 Prozentpunkten den höchsten Zuwachs in diesem Zeitraum verbuchte. Dagegen verzeichnete die „Industriestadt“ Leverkusen mit 21,4 Prozentpunkten den größten Einbruch.
Handel und Verkehr einschließlich Gastgewerbe ist lediglich (noch) in den beiden Städten Heilbronn und Bochum der wichtigste Wirtschaftsbereich.
Unterschiedliche Wirtschaftskraft der Städte in Ost und West
Die unterschiedliche sektorale Wirtschaftsstruktur beeinflusst auch die Wirtschaftskraft der Städte. Industriestädte haben eine deutlich höhere Bruttowertschöpfung (BWS) pro Einwohner als andere Städtetypen (Karte 1 u. Grafik 2). Wenig überraschend ist, dass die Wirtschaftsleistung pro Einwohner in den Städten der alten Länder immer noch deutlich über denen der neuen Länder liegt. Bei einem Durchschnittwert von 100 für alle Großstädte erreichen die westdeutschen Städte einen überdurchschnittlichen Wert von 105, während die ostdeutschen Städte nur einen Wert von 72 erzielen.