Anfang der 2000er-Jahre dominierte der demographische Wandel die wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Debatte zur Bevölkerungsentwicklung. Vor 15 Jahren machte das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ mit einem alarmierenden Titel auf: „Der letzte Deutsche: Auf dem Weg in die Greisenrepublik“ (Der Spiegel 2004). Heute ist der demographische Wandel aus den Schlagzeilen, und vielfach auch aus dem Bewusstsein, verschwunden. Vielerorts im Land wächst die Bevölkerung – mit den bekannten Nebenwirkungen wie steigende Mieten oder Baulandpreise. Auch die Geburtenrate ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Mit einem Wert von 1,57 (2017) liegt die Zusammengefasste Geburtenziffer (Glossar) aktuell auf einem Niveau wie zuletzt Anfang der 1970er-Jahre in der alten Bundesrepublik (Destatis 2019a, vergl. Klüsener 2013: Grafik 1). Gründe für diesen Anstieg sind die seit 2007 umgesetzten familienpolitischen Maßnahmen – die Einführung des Elterngelds und der Ausbau der Kindertagesbetreuung (Leibert 2015) – sowie ein wachsender Kinderwunsch. Immer mehr Mütter möchten heute ein zweites oder drittes Kind bekommen. Gleichzeitig ist die Zahl der kinderlosen Frauen im Alter zwischen 35 und 40 leicht rückläufig (Pötzsch 2018).
Die Zuwanderung aus dem Ausland ist jedoch letztendlich für den Anstieg der Einwohnerzahlen der letzten Jahre verantwortlich. Gegenüber dem Ausnahmejahr 2015, als fast eine Million Flüchtlinge und Asylsuchende nach Deutschland kamen, hat sich der Wanderungssaldo mit dem Ausland inzwischen aber erheblich verringert. Dennoch sind die Wanderungsgewinne im Zeitraum 2013 bis 2017 zahlenmäßig deutlich größer als zwischen 1993 und 2012. Auf der anderen Seite wandern seit 2016 deutlich mehr Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft aus der Bundesrepublik aus als im Durchschnitt der Jahre 2005 bis 2015 (Destatis 2019b).
Regionale Unterschiede
Ist der demographische Wandel also abgesagt? Waren die Sorgen vor Schrumpfung, Alterung und Kindermangel unbegründet und übertrieben? Vergleicht man die Einwohnerentwicklung im Zeitraum 2014 bis 2016 (Karte 1) mit den Trends zwischen 2011 und 2013 (Karte 2) wird deutlich, dass sich die Zahl der schrumpfenden Kreise erheblich verringert hat. Dies ist besonders auf die deutlich gestiegene Zuwanderung aus dem Ausland zurückzuführen. Nur noch im Erzgebirgskreis und dem Landkreis Greiz überlagern und verstärken sich Einwohnerverluste durch Abwanderungen und Sterbeüberschüsse (Typ 4, in der Karte lila dargestellt).
Die Wanderungsgewinne reichen allerdings nicht überall aus, um das Geburtendefizit auszugleichen. Insbesondere in ländlich-peripheren, strukturschwachen Kreisen Ostdeutschlands schrumpft die Bevölkerung trotz Wanderungsgewinnen (Typ 3: hellblau).
Im internationalen Vergleich ist die deutsche Bevölkerung stark gealtert. In vielen Regionen ist ein Bevölkerungswachstum nur möglich, wenn Wanderungsgewinne die Einwohnerverluste, bedingt durch niedrigere Geburten- als Sterbezahlen, ausgleichen (Typ 2: hellrot). Ausnahmen sind Gebiete, in die bevorzugt junge Erwachsene im Familiengründungsalter zuziehen (Typ 1: orange). Dabei handelt es sich in erster Linie um Großstädte mit attraktiven Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Regional, etwa im Rhein-Main-Gebiet oder in den Metropolen Stuttgart und München, strahlt das Wachstum und die damit verbundene „Verjüngung“ der Altersstruktur auch auf das jeweilige Umland aus. Im Gegensatz zu anderen EU-Staaten gibt es in Deutschland aufgrund der ungünstigen Altersstruktur keine Abwanderungsregionen mit Geburtenüberschüssen (Leibert 2018).
Zuwanderung von Schutzsuchenden
Dass von 2014 bis 2016 in 399 der 401 Landkreise und kreisfreien Städte die Einwohnerzahl gewachsen ist, ist in erster Linie auf die Zuwanderung von Asylsuchenden und Geflüchteten zurückzuführen, die über den sogenannten Königsteiner Schlüssel auf die Bundesländer und Kreise verteilt werden (Glorius 2017; Glossar). Durch dieses Vorgehen wurde – zumindest auf der Kreisebene – eine praktisch flächendeckende Verteilung der Schutzsuchenden erreicht.
Bislang ist noch unklar, wie viele der in ländliche Räume zugewiesenen Asylsuchenden dort längerfristig bleiben werden. Aktuelle Studien legen nahe, dass Wohnstandortentscheidungen von anerkannten Geflüchteten angesichts zahlreicher Unsicherheitsfaktoren (z.B. Familiennachzug, Arbeitsplatzsuche) häufig vorläufiger Natur sind (Weidinger/Kordel/Pohle 2017). Es wäre daher verfrüht, von einer dauerhaften Entspannung der demographischen Lage in ländlichen Schrumpfungsregionen zu sprechen.
Muster der Binnenwanderung
Karte 3 zeigt, dass weite Landesteile ohne Zuwanderung aus dem Ausland Abwanderungs- und Schrumpfungsregionen wären. Dabei handelt es sich nicht nur um strukturschwache ländliche Räume oder Altindustriestandorte mit ungünstigen Arbeitsmarkt- und Lebensbedingungen. Auch viele wirtschaftsstarke Kreise mit sehr niedrigen Arbeitslosenquoten, etwa in Baden-Württemberg oder Südhessen, weisen hinsichtlich der Einwohner mit deutscher Staatsangehörigkeit eine negative Wanderungsbilanz auf. Etwas vereinfachend kann man die Kreise mit positiver Wanderungsbilanz (in der Karte 3 dunkelgrün: Typ A) der Deutschen drei Raumkategorien zuordnen: (1) Groß- und Universitätsstädte sowie Landkreise mit bedeutenden Universitätsstädten (z.B. Landkreise Gießen, Göttingen und Konstanz), (2) das Umland von Großstädten sowie (3) landschaftlich attraktive Regionen im Alpenvorland sowie an der Nord- und Ostsee. Dieses Raummuster spiegelt die Wanderungen unterschiedlicher Altersgruppen wider: Schulabgänger und Berufseinsteiger zieht es in die (Universitäts-)Städte, Familien aus der Stadt ins Umland und die Generation 50 plus in landschaftlich attraktive ländliche Räume mit hoher Lebensqualität.
Resümee
Die Frage, ob der demographische Wandel abgesagt ist, muss mit „nein, aber …“ beantwortet werden. Es gibt Regionen, die attraktiv für Menschen aus dem In- und Ausland sind und eine ausgewogene Bevölkerungsstruktur aufweisen. Diese Regionen, insbesondere die großen Metropolen und ihr Umland, werden weiter wachsen. Die derzeit zu beobachtende Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung in strukturschwachen ländlichen Räumen wird nicht von Dauer sein. Aufgrund der vielerorts rasch fortschreitenden Überalterung und der sich öffnenden Schere von Geburten und Sterbefällen wird es für diese Kreise immer schwieriger, genügend Menschen anzuziehen und zu halten, um das lokale Geburtendefizit auszugleichen. Der aktuelle Geburtenanstieg ist zwar ermutigend, aber bei weitem nicht ausreichend, um eine Trendwende der natürlichen Bevölkerungsentwicklung auszulösen (Pötzsch 2018).