Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft und die zunehmende Erwerbstätigkeit von Frauen sind nicht nur wichtige Aspekte des sozialen Wandels, sondern beeinflussen auch die Migrationsmuster junger Menschen. Geschlechtsspezifische Unterschiede im Wanderungsverhalten führen zu regionalen Frauen- oder Männer-Überschüssen (Glossar).
Unterschiede in den Geschlechterproportionen lassen sich in Deutschland vor allem zwischen ländlichen und städtischen Gebieten, zwischen prosperierenden und schrumpfenden Wirtschaftsräumen sowie zwischen alten und neuen Ländern beobachten. Urbane Regionen weisen tendenziell einen Überschuss an jungen Frauen auf, während in dünn besiedelten, ländlichen Räumen, insbesondere in Ostdeutschland, ein Männer-Überschuss erkennbar ist (Karte 1).
Die wichtigsten Ursachen für die Abwanderung junger Frauen aus ländlichen Regionen sind ihr höheres Bildungsniveau, eine stärkere Mobilitätsbereitschaft und Ambitioniertheit sowie eine Präferenz für urbane Lebensstile. Weitere Erklärungen liegen in den Wanderungsmotiven: Männer wandern überwiegend aus beruflichen Gründen und damit in etwas höherem Alter, Frauen dagegen im stärkeren Maße aus familiären Gründen und zum Zweck der Ausbildung (Graphik 1). Die Ballungsräume bieten jungen Frauen sowohl gute Jobaussichten als auch gut verdienende (potenzielle) Ehepartner (EDLUND 2005).
Die Entwicklung der Geschlechterverhältnisse zwischen 1990 und 2009 zeigt unterschiedliche räumliche Tendenzen (Graphik 2). In den 1990er Jahren sind in Ostdeutschland zunehmend Frauen-Defizite zu erkennen, sowohl in den Stadt- als auch in den Landkreisen. Nach der Jahrtausendwende ist in den Landkreisen eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau festzustellen. Die Situation in den Kernstädten ist komplexer: Einige Städte, etwa Leipzig, haben sich zu attraktiven Wohnorten für junge Frauen entwickelt. Auch in vielen Städten im Westen ist dieser Trend erkennbar. In verstädterten und ländlichen Kreisen Westdeutschlands sind im Zeitverlauf dagegen kaum qualitative Veränderungen der Sexualproportionen feststellbar.
Wanderungsverhalten und Lebensphasen
Unausgewogene Geschlechterproportionen sind ein Spiegelbild regionaler Strukturen des Arbeitsmarkts und des Bildungsangebots. Eine wichtige Rolle spielen auch Erreichbarkeiten, regionale Subkulturen und Lebensstile. Der Einfluss der verschiedenen Faktoren auf das Wanderungsverhalten verändert sich im Lebensverlauf.
Das Alter zwischen 20 und 25 Jahren ist die Lebensphase der Ausbildung, des Studiums und der ersten Jobs (Karte 1). In dieser Altersgruppe weisen viele Universitäts- und Hochschulstädte einen ausgeprägten Frauen-Überschuss auf. Dies lässt sich zum Teil darauf zurückführen, dass junge Männer zum Studium nicht umziehen, sondern vom Elternhaus zum Studienort pendeln. Eine wichtige Rolle spielt auch das Fachangebot des Hochschulstandorts: So kommen in der Stadt Aachen auf 100 Männer der Altersgruppe der 20-25-Jährigen nur 74 Frauen. Der Studentinnenanteil an der RWTH Aachen (Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule) lag 2009 mit 32% deutlich unter dem Bundesdurchschnitt von 48%. In Heidelberg, wo 58% der Studierenden weiblich sind, kommen dagegen 149 Frauen auf 100 Männer.
Ein Männer-Überschuss ist in weiten Teilen des ländlichen Raums, vielen strukturschwachen Kreisen und beispielsweise dem Bundesmarinestandort Wilhelmshaven festzustellen. Ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Sexualproportion und der Lehrstellensituation bzw. der Jugendarbeitslosigkeit ist jedoch nicht erkennbar (BODE/BURDACK 2010).
Zwischen 25 und 30 Jahren erfolgen der Einstieg ins Berufsleben und die erste berufliche Etablierung, häufig in Form befristeter Arbeitsverhältnisse (Karte 2). In dieser Altersgruppe werden vor allem Ost-West-Unterschiede deutlich. In Westdeutschland ist weiterhin ein Stadt-Land-Gegensatz erkennbar. Die Frauen-Überschüsse konzentrieren sich auf die Kernstädte der Metropolregionen, strahlen aber auch in einige Umlandkreise aus. Für junge Frauen bieten Wirtschaftszentren wie Frankfurt a.M., Köln oder München die günstigsten Rahmenbedingungen sowohl für den Berufseinstieg (GEPPERT/GORNIG 2010) als auch für die Verbindung von Familie und Beruf (LEIBERT 2009).
Bei den 30- bis 34-Jährigen ist das regionale Muster der Sexualproportionen deutlich ausgeglichener (Karte 3). Nicht mehr die Kernstädte, sondern die Umlandkreise weisen die höchsten Frauenüberschüsse auf. Hier spiegelt sich der Wunsch, „ins Grüne“ zu ziehen, wider, den viele Menschen realisieren, wenn sie eine unbefristete Stelle gefunden haben.
Ungleichgewichte in den Geschlechterproportionen können auch auf einen rein statistischen Effekt zurückzuführen sein: Männer sind im Durchschnitt drei Jahre älter als ihre Ehepartnerinnen. Bei einem Teil der gemeinsam wandernden Ehepaare fallen die Partner daher in unterschiedliche Altersgruppen.
Frauen-Defizite in Schrumpfungsregionen
Regionen mit Männer-Überschuss sind oft demographische und ökonomische Schrumpfungsregionen. Die überproportionale Abwanderung junger Frauen verschärft die ohnehin ungünstige Situation dieser Gebiete. Der Verlust potenzieller Mütter wirkt sich negativ auf die Geburtenzahlen aus. Mit dem Wegzug junger Frauen ist auch ein Verlust an Humankapital verbunden, der zu einem Nachwuchsmangel in traditionellen „Frauenberufen“ führen kann – wie etwa im Pflegebereich; zudem werden Bestrebungen, das gesellschaftliche Leben und die sozialen Netzwerke in Abwanderungsregionen aufrechtzuerhalten, erschwert.
Im Kontext dieser demographischen und ökonomischen Strukturen werden auch negative psychosoziale Konsequenzen für die zurückbleibenden jungen Männer vermutet. Ein Frauen-Defizit bedeutet für sie eingeschränkte Möglichkeiten, eine Partnerin kennen zu lernen. Vom Heirats- und vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu sein, wirkt sich negativ auf das Selbstbild aus und muss als Nährboden für politisch und sozial abweichendes Verhalten in Betracht gezogen werden. Die Herausbildung entsprechender Subkulturen könnte bei anderen Jugendlichen Abwanderungswünsche verstärken oder gar auslösen.
Das Bild der Zurückbleibenden als Problemgruppe bedarf jedoch einer Relativierung. Eine norwegische Studie zeigt, dass es für junge Männer mit niedrigem Bildungsniveau vorteilhaft sein kann, in der Heimat zu bleiben, da auf ländlichen Arbeitsmärkten persönliche Beziehungen und praktisches Geschick einen höheren Stellenwert haben, als Zeugnisse und Zertifikate (BYE 2009). Die Eintrittsbarrieren ins Erwerbsleben sind dadurch niedriger. Ob sich diese Ergebnisse auf Deutschland übertragen lassen, müsste untersucht werden.