Vorfahrtsstraßen und kommunale Handlungsfähigkeit
Die Anteile an Tempo-30-Abschnitten im Straßennetz unserer Großstädte variieren zwischen 18 Prozent in Salzgitter und etwa 60 Prozent in Berlin. Über die Hintergründe haben wir in der März-Ausgabe des Nationalatlas aktuell berichtet (Hanewinkel & Sgibnev 2023). In diesem Beitrag widmen wir uns der Frage, wo weitere Potenziale für Geschwindigkeitsreduzierungen liegen und in welchem Umfang sie genutzt werden. Im Fokus stehen die rechtlichen und praktischen Möglichkeiten der Kommunen, Tempolimits auszuweisen. Dabei wird sowohl der kommunale Gestaltungsspielraum zur Ausweisung von Tempo-30-Zonen als auch die tatsächliche Ausnutzung dieses Spielraums durch die Städte untersucht. Mit Hilfe dieser Potenzialanalyse können Hinweise auf ein Ambitionsgefälle zwischen Kommunen aufgespürt werden.
Eine ausschlaggebende Rolle spielt der Anteil von Hauptstraßen am Gesamtstraßennetz einer Großstadt. Sie dienen einer weiträumigen Erschließung mit hohen Geschwindigkeiten und schränken die kommunalen Handlungsmöglichkeiten von vornherein ein: Die Straßenverkehrsordnung (StVO) erlaubt eine Abweichung von der innerörtlichen Regelgeschwindigkeit von 50 km/h in der Regel nur auf Verkehrswegen, die weder als Bundes-, Landes- noch Kreisstraßen oder weitere Vorfahrtstraßen ausgewiesen sind. In anderen Fällen wird es komplizierter (Fotos). Die Ausweisung von Tempo 30 und darunter ist auf Vorfahrtstraßen somit erheblich erschwert und verlangt nach einer gerichtsfesten Begründung. Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für eine Verkehrswende engagieren, haben den Vorwurf formuliert, die StVO verlange, „dass Verkehrssicherheit mit Blut erkauft wird“ (Changing Cities 2022). Der politische Handlungsdruck ist aktuell hoch: Immer mehr Gemeinden in Deutschland schließen sich der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ an, 742 waren es im Mai 2023 (Agora Verkehrswende 2023).
Tempo 30 – Potenzialanalyse
Mit statistischen Methoden können aus den Daten zu temporeduzierten Streckenanteilen im Haupt- und Nebenstraßennetz qualitative Aussagen getroffen und die Kommunen klassifiziert werden (Glossar). Die Karte veranschaulicht die Ergebnisse für die drei Aussageebenen Gestaltungsspielraum (1), Ausnutzung bei den Hauptstraßen (Vorfahrtsstraßen) (2) und Ausnutzung bei den Nebenstraßen (3). Die Klassifizierungen werden je Großstadt mit einem zusammengesetzten Symbol repräsentiert: In der interaktiven Karte sind sie als Ebenen (Layer) wählbar. Jede inhaltliche Ebene lässt sich einzeln oder in Kombination betrachten: Das Rechteck zeigt den Gestaltungsspielraum, die Raute symbolisiert die Vorfahrtsstraßen und der Kreis die Nebenstraßen.
Mit Blick auf den Gestaltungsspielraum treten vier Städte im Nordwesten hervor, die ihre Möglichkeiten bei weitem nicht ausgeschöpft haben (Karte, Grafik): Oldenburg hat dabei mit rund 75 Prozent den höchsten Anteil an Nebenstraßen am kommunalen Straßennetz. Die drei Städte mit dem geringsten Gestaltungsspielraum liegen in der Mitte Deutschlands; Salzgitter weist mit rund 45 Prozent den geringsten Wert auf. Einen geographischen Zusammenhang für diese Verteilungen gibt es nicht. Mitentscheidend ist vielmehr die innerörtliche Geographie, also die Lage und verkehrliche Verbindung der Ortsteile untereinander sowie deren Nutzung (Wohngebiet, Mischgebiet, City, Gewerbegebiet usw.).
Ob Tempolimits unterhalb der Regelgeschwindigkeit von 50km/h durchgesetzt werden, ist eine Frage des politischen Willens und kommunalen Handelns. Die interaktive Karte zeigt, welche Städte ihre Spielräume vergleichsweise gut genutzt haben und welche bisher deutlich unter ihren Möglichkeiten geblieben sind. Insgesamt ergibt sich ein heterogenes Bild mit einigen Auffälligkeiten. Den stärksten politischen Willen, die Lebensqualität durch Temporeduzierung zu erhöhen, haben offensichtlich die Großstädte mit einer hohen Ausnutzung der Potenziale für Geschwindigkeitsreduzierungen bei den Nebenstraßen. Beispiele sind Berlin, Reutlingen, Essen und München mit den deutschlandweit höchsten Anteilen an Tempo 30 und darunter (Hanewinkel & Sgibnev 2023). Demgegenüber sind es die Städte mit niedrigem Gestaltungsspielraum, die ihre Möglichkeiten zur Geschwindigkeitsreduzierung am wenigsten ausnutzen. Und es gibt einige Kommunen, die trotz hoher Gestaltungsspielräume vergleichsweise niedrige Quoten bei der Verkehrsberuhigung erreichen, darunter Osnabrück, Gütersloh oder Paderborn. Dagegen erzielen Darmstadt, Karlsruhe und Heidelberg unter wesentlich schwierigeren Bedingungen beim Straßennetz überdurchschnittliche Ergebnisse bei der Geschwindigkeitsreduzierung.
Fazit
Bei einer deutschlandweiten Betrachtung können Motivationen und Zwänge der einzelnen Kommune genauso wenig berücksichtigt werden wie die Gründe für das Maß des lokalpolitischen Gestaltungswillens. Die Daten und mehr noch die daraus abgeleitete Karte erlauben einen Überblick, sagen aber nichts über das Ausmaß oder die Qualität der Verkehrsberuhigung vor Ort aus. Im Idealfall regen die Ergebnisse unserer Auswertung Kommunen dazu an, ihre Potenziale zur Verkehrsberuhigung zu erfassen und Strategien zu entwickeln, wie sie städtische Räume durch verkehrsberuhigende Maßnahmen lebenswerter für ihre Bürgerinnen und Bürger gestalten können.